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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Video vielleicht. Sikiokuu, den die Resultate der Verhöre durch Njoya und Kahiga alles andere als zufriedenstellten, hatte den Videomitschnitt angefordert und hoffte, wenn er ihn persönlich ansah, könnte es ihm gelingen, aus Tajirikas Worten, seinem Tonfall und seiner Körpersprache wichtige Hinweise auf Nyawĩras Versteck abzuleiten. Schließlich war Tajirika ihr Arbeitgeber gewesen, und Sikiokuu glaubte seinen Dementis, nichts mit ihr gehabt zu haben, sowieso nicht. Sobald der Mitschnitt bei ihm ankam, gab er strikte Order, unter keinen Umständen gestört zu werden. Er schloss sich in seinem Büro ein und band sich die langen Ohren hinter dem Kopf zusammen, damit ihr Schatten ihn nicht behinderte, während er jede Geste und jeden Gesichtsausdruck Tajirikas studierte.
    Sikiokuu war nicht gerade für seinen Humor bekannt. Nur wenige hatten ihn jemals lächeln oder gar lachen sehen, es sei denn sarkastisch. Als er sich aber Tajirika als Weißen vorstellte, musste er ebenso lachen wie zuvor Njoya, und er lachte, bis ihm der Knoten an seinen Ohren wieder aufging und die Rippen wehtaten. Tajirika ein Weißer?
    Am Ende des Videos war sein Lachen verebbt und Wut und Enttäuschung gewichen. „Wertlos! Nichts über Nyawĩra!“, brach es aus ihm heraus. Er wollte die Kassette schon in den Mülleimer werfen, als ihm Zweifel kamen. Er lehnte sich im Stuhl zurück, schloss die Augen und ließ das Video noch einmal Sequenz für Sequenz vor seinem geistigen Auge ablaufen.
    Selbst jetzt, da er es in Gedanken noch einmal durchging, blieb vieles unklar. Was ihm nun allerdings an der Erzählung eigenartig vorkam, war nicht nur Tajirikas Behauptung, ihm wären die Worte im Hals stecken geblieben, sondern dass er das Wort „Staatsstreich“ verwendete, um seine Krankheit zu beschreiben. War ihm das als eine Art Freudscher Versprecher herausgerutscht? Dieser Verdacht löste weitere Fragen aus: Warum, zum Beispiel, wurde Tajirika erst gesund, nachdem er erfahren hatte, dass er als Weißer in elender Armut leben würde? Mit einem Mal sah Sikiokuu völlig klar, schlug die Augen auf, legte die Videokassette auf den Tisch und fing an, vor sich hin zu pfeifen und seine Ohrläppchen zu streicheln. Tajirika hatte das Wort „weiß“ die ganze Zeit als Synonym für „Macht“ verwendet, so viel stand fest. Tajirika hatte sich danach gesehnt, weiß zu sein, um Macht zu besitzen, und musste gehofft haben, sie mit Waffengewalt an sich zu reißen, denn wie anders konnte man in Aburĩria an die Macht gelangen? Andererseits machte Tajirika nicht den Eindruck, als wäre er Manns genug, derartiges loszutreten; er war mehr Gefolgsmann als Anführer. Sein Verlangen musste entweder von den Plänen ausgelöst worden sein, die Machokali und er ausgeheckt hatten, oder von Plänen, über die er andere hatte reden hören. Letzteres war wahrscheinlicher, denn so wie es Menschen gibt, die nur nachbeten können, was andere ihnen vorsprechen, so gibt es diejenigen, die nur die Gedanken anderer wiederkäuen können. Das würde auch erklären, warum ihm die Worte im Hals stecken geblieben waren. Dieser Gedanke war ihm nicht selbst gekommen, und er hatte das entweder vergessen oder durcheinandergebracht. Und da es ebenso unwahrscheinlich war, dass Tajirika jemals Macht haben würde, wie es unwahrscheinlich war, dass er jemals ein Weißer sein würde, musste ihm das Verlangen als völlig unerfüllbar erschienen sein, und daher dieses „Wenn!“ Außerdem wusste selbst der dümmste Aburĩrier, dass es Hochverrat war, auf den die Todesstrafe stand, wenn man sich den Tod des Herrschers erträumte, vorstellte oder wünschte. Das erklärte nicht nur, warum sich die Träume dieses Mannes weigerten, sich in Worten auszudrücken, sondern auch, warum das echte Verlangen nach Macht, mit welchen Tricks des Hexendoktors auch immer es dazu gezwungen worden war, verschlüsselt herauskam, als Verlangen, weiß zu sein.
    Sikiokuu stand auf, sprang stolz durch sein Büro, und selbst als er nicht mehr ständig auf und ab hüpfte, zitterte er noch vor Erregung, weil sich alles für ihn zum Guten kehrte. Die Gefangennahme Nyawĩras war nicht länger eine Sache von Leben und Tod. Wenn er nur bewies, dass es Pläne gab, die Regierung zu stürzen, war das ein großer Triumph. Und mit diesem einen Stein konnte er gleich zwei große Vögel zur Strecke bringen: die Aufmerksamkeit von seiner Erfolglosigkeit ablenken, Nyawĩra zu verhaften, und gleichzeitig seinen politischen Erzfeind,

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