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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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auch ist, versuche mit der ganzen Kraft deines Geistes, es an einer Stelle festzuhalten! Und lass es nicht entwischen. Dort. Ja. So.‘
    Vom Geräusch seines Messers, das am Spiegel kratzte, schmerzten mir die Zähne, als ob er auf ihnen herumscheuerte. Doch plötzlich sah ich, wie das Bild vor meinem geistigen Auge in tausend Sterne zersprang, die ins Dunkel meiner Seele entschwanden.
    ,Sein Abbild, ist es noch da?‘, fragte er.
    ,Nein‘, antwortete ich. ‚Es ist weg. Sterne, die in der Dunkelheit verschwanden.‘
    ‚Das war’s‘, sagte er.
    Ich öffnete die Augen und spürte eine seltsame Erregung. Ehrlich, Haki ya Mungu ! Dieser Mensch, der euch gerade diese Geschichte erzählt, dieser Mensch, der jetzt vor euch steht, dieser Mensch, der auf den Namen Constable Arigaigai Gathere hört, dieser Mann spürte Tränen in sich aufsteigen. Aber es waren keine Tränen des Kummers, sondern der Freude, weil die Last vieler Jahre mit einem Mal von meinem Herzen und von meinem Leben genommen war.
    ‚Jetzt geh nach Hause‘, befahl er mir mit sanfter Stimme, ‚du musst nun nur noch herausfinden, ob es einen Verkehrsunfall gegeben hat, in den matatus verwickelt waren. Wenn nicht heute, dann morgen, und wenn nicht morgen, dann übermorgen. Dein Feind gehört sehr wahrscheinlich zu den tödlich Verunglückten. Von heute an darfst du nie wieder einen Bettler, einen Wahrsager, einen Heiler, einen Zauberer oder eine Hexe belästigen. Wenn du jemals wieder einem Hilflosen etwas antust, wird sich dieser Zauber gegen dich kehren. Du wirst alles, was du hast, verlieren, auch deinen Seelenfrieden. Nun geh. Deine Taten werden der Spiegel deiner Seele sein. Deshalb schau immer in den Spiegel.‘
    Ich zögerte. Und er fragte mich, ob ich noch etwas auf dem Herzen hätte. Ja, da gab es noch etwas Dringliches. Obwohl ich den Umriss eines Abbilds vor meinem geistigen Auge gehabt hatte, konnte ich immer noch nicht sagen, wer mein Feind war, selbst wenn ich ihm auf der Straße begegnet wäre. Ich fragte den Zauberer: ‚Können Sie mir den Namen meines Feindes nennen, dessen Abbild Sie ausgekratzt haben?‘
    ‚Nein‘, antwortete er. ‚Ich will nicht, dass du nachts nicht schlafen kannst, weil dich sein Verschwinden quält. Deine Taten sind ein besserer Spiegel deines Lebens als die Handlungen aller deiner Feinde zusammengenommen. Deshalb habe ich dir aufgetragen, genau zu bedenken, was du anderen antust, statt immer daran zu denken, was andere dir antun.‘
    Versteht ihr jetzt? Deswegen habe ich gesagt, der Mann ist ein Mensch und gleichzeitig mehr als ein Mensch. Er nimmt alle Last vom Herzen. Ich sage das, weil ich als pflichtbewusster Mensch meinen Handlungen eigentlich immer vertraut habe. Und trotzdem bat er mich, darauf zu achten, was ich tat. Vielleicht verbarg sich der Feind in meinen Taten. Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich meine Feinde viel eher entdecken und mir viele Qualen ersparen können.
    Nachdem ich mich umgezogen hatte, kehrte ich wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Jetzt fürchtete ich nichts mehr auf der Welt. Ich pfiff vor mich hin, war unbeschwert und hatte immer ein ,Wie geht’s‘ auf den Lippen, egal wen ich traf, auch wenn es mein Chef Wonderful Tumbo war.
    Anstatt wieder auf die Straße zu gehen, eilte ich direkt in die Polizeizentrale. Warum soll ich lügen? Auch wenn ich jetzt nichts auf der Welt mehr fürchtete, so wollte ich doch wissen, ob die erste Vorhersage in Erfüllung gegangen war. Gab es irgendwelche Berichte über Unfälle mit matatus ? Beim Zustand unserer Straßen – selbst die wenigen, die zum Zeitpunkt unserer Unabhängigkeit geteert waren, bestanden nur noch aus Schlaglöchern – hätte es mich überrascht, wenn es keine Unfälle gegeben hätte. Sicher konnte man sich aber nicht sein, das Schicksal war schließlich unberechenbar.“
    An dieser Stelle machte A.G. gewöhnlich eine Pause, als müsste er über die mörderischen Straßen nachdenken. Dann riefen seine Zuhörer immer: „ A.G. , erzähl weiter.“ Und er antwortete: „Meine Kehle ist ganz ausgetrocknet.“ Doch sobald seine Zuhörer ihm das Glas wieder gefüllt hatten, spürte er, wie neue Kraft ihn durchströmte, und er nahm seine Geschichte wieder auf.
    Er erzählte dann, wie er zur Polizeizentrale kam und nach dem TPB, dem Tages-Protokoll-Buch, fragte. Ihm raste das Herz: Was, wenn die Schlaglöcher heute nicht ihr tägliches Opfer gefordert hatten? Was, wenn kein matatu in einen Unfall verwickelt war? Aber

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