Herr der Krähen
wie der, den ich meine, dann kann ich dir ehrlich versichern, dass ich nichts über ihn weiß, abgesehen von der Tatsache, dass er in unser Büro kam und Arbeit suchte.“
Einen Test auf dem Lügendetektor hätte sie jetzt sicher nicht bestanden, denn während sie sprach, spürte sie, wie sich Unruhe in ihr breitmachte. Wie ging es Kamĩtĩ? War ihm etwas zugestoßen? Verschwieg ihr Kaniũrũ irgendetwas?
„Ob du es hören willst oder nicht, ich mache mir Sorgen um dich und ich möchte nicht, dass es mit dir ein böses Ende nimmt, weil du in schlechter Gesellschaft bist. Ich bin nicht abergläubisch, aber dieser Mann ist kein Mensch. Er könnte ein Dschinn oder ein Ungeheuer sein.“
„Ein Ungeheuer? Und er ist nicht Mitglied der Regierung?“, fragte Nyawĩra mit gezwungenem Lachen. „Ich kann mich gut selbst verteidigen.“
Sie griff nach ihrer Handtasche und stand auf, um zu gehen. Sie dachte an Kamĩtĩ und überlegte, wo und wie er den Tag verbracht haben könnte. Zu seinen Sorgen kam jetzt auch noch, dass ihr Ex-Mann hinter ihm her war. Sie fühlte sich matt, aber bei dem Gedanken, dass Unheil auf Kamĩtĩ zukommen könnte, spürte sie einen Stich im Herzen und wusste nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte.
„Hör zu“, sagte sie zu Kaniũrũ. „Selbst wenn du jemandem begegnen solltest, der mich umbringen will, behalte es für dich. Ich will nichts von dir. Also gib nicht vor, dass du es für mich tust.“
Er sah ihr nach, wie sie zum Tresen ging und ihren Tee und den Kuchen bezahlte. Sie ging, ohne noch einmal zurückzuschauen. Er saß betrübt da. Sie hatte ihn nicht ernst genommen. Und doch war er sich sicher, was er gesehen hatte. Oder hatten ihn seine Augen getäuscht?
„Nein. Der Mann ist ein Mensch, aber gleichzeitig auch mehr als ein Mensch“, murmelte er vor sich hin, noch immer verwirrt von dem, was er vor den Toren des Paradise erlebt hatte.
15
Constable Arigaigai Gathere benutzte dieselben Worte, als er die Geschichte erzählte, was er an dem Tag erlebt hatte, als der Herr der Krähen ihm befahl, das Spukhaus zu verlassen.
„Seltsam. Erst spricht er mit der sanften Stimme einer Frau zu mir, und dann kommt aus demselben Mund ein brüllender, männliche Ton, der mir befiehlt, zu verschwinden und mir die Füße zu waschen, weil sie das Feld seiner magischen Kräfte besudelt haben. Dieser Mann? Ich schwöre, ehrlich! Haki ya Mungu , dieser Mann, er ist ein Mensch und gleichzeitig mehr als ein Mensch.“ Für A.G. drückten diese Worte keine Gehässigkeit aus, sondern Ehrfurcht, Respekt und Bewunderung, denn er gestand seinen Zuhörern: „Alles, was ich bin, alles, was ich jetzt habe, verdanke ich der Kunst des Herrn der Krähen.
Wie sollte ich mich auch seinem ersten Befehl widersetzen? Ohne Zögern rannte ich die ganze Strecke bis nach Hause, wo ich mir Hände und Füße wusch, wieder und wieder, und nur eine Stunde später war ich zurück in Santalucia. Diesmal achtete ich darauf, die Tür nicht anzufassen oder zu dicht davorzustehen. Die Tür öffnete sich von ganz allein, als wollte sie mich einladen einzutreten, und so betrat ich den heiligen Boden seines Lebensraums. Dann hörte ich einen neuen Befehl: Stell dich vor das kleine Fenster! Dieses Fenster sah wie das Fenster eines Beichtstuhls in einer katholischen Kirche aus, nur dass ihm das Gitterwerk fehlte, und ich sein Gesicht und seine Augen klar und deutlich erkennen konnte. Aber was das für Augen waren! Sie sahen aus wie Feuerbälle.
‚Dein Herz ist beladen‘, sprach die Stimme.
‚Ja! Ja!‘, antwortete ich.
‚Von vielem Kummer niedergedrückt?‘
‚Ja! Ja!‘
‚Gibt es einen besonderen Grund, der dich zum Herrn der Krähen führt?‘
Seine Stimme klang rund und voll, weich und besänftigend, und anders als zuvor, sodass ich nicht wusste, ob er eine Feststellung machte oder eine Frage stellte.
‚Sie haben meine Gedanken erraten‘, sagte ich. ,Wissen Sie, ich bin seit vielen Jahren Polizist, und so hart ich auch arbeite, ich bin noch nie befördert worden. Herr der Krähen, ich bin mir sicher, dass ich Feinde habe, die mich mit Zauberei am Fortkommen hindern.‘
‚Sagt dir das dein Herz?‘
‚Ja.‘
,Wieso? Was macht dich so sicher, dass es so ist?‘
,Weil das Herz niemals lügt. Wissen Sie, ich bin ein Arbeitstier. Wenn ich zum Beispiel Verkehrsdienst habe, schreibe ich mehr Verwarnungen als jeder andere Polizist. Bei den matatus bin ich besonders hart. Deshalb frage ich mich oft, woran
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