Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
Vom Netzwerk:
gleichen Zeit, in der Sikiokuu seinen Anweisungen den letzten Schliff verpasste, dachte sein Widersacher Machokali nicht ohne stille Verwunderung an den Augenblick, da ihm die „Apokalyptischen Reiter“ in den Sinn gekommen waren. Am besten gefiel ihm, dass Sikiokuu diese Boten in alle fünf Regionen Aburĩrias entsenden würde, damit sie das Evangelium des Schlangestehens verkündeten, das er anfangs mit Verachtung abgetan hatte. Außerdem hatte das Schlangestehen als massenhaftes Bekenntnis zu Marching to Heaven jetzt den Segen des Herrschers. Machokali war davon überzeugt, dass die Berichte der fünf Reiter nützen würden. Welchen Weitblick er doch mit der Ernennung Tajirikas zum Vorsitzenden von Marching to Heaven bewiesen hatte, denn alle Berichte – einschließlich dem des verrückt gewordenen Motorradpolizisten – besagten übereinstimmend, dass die Schlangenbildung vor den Büros der Eldares Modern Construction and Real Estate begonnen hatte.
    Nach der Krisensitzung des Kabinetts rief Machokali Tajirika an, um ihm zu gratulieren, da die Warteschlangendämonen zuerst vor seinen Büros aufgetaucht waren. Aber er war enttäuscht, als er erfuhr, dass es Tajirika leider noch nicht besser ging. Dass sein Freund sich ausgerechnet jetzt eine Grippe einfangen musste! Mit wem sonst konnte er die Freude über den Sieg teilen?
    In jener Nacht träumte ihm, dass er vier Boten erblickte, vier Reiter auf weißen Motorrädern … Schweißgebadet wachte er auf. Warum vier und nicht fünf?
    Wieder rief er bei Tajirika an. Er solle ihn bitte zurückrufen, sobald es ihm besser gehe.

9
    Tajirika, der Vorsitzende von Marching to Heaven, Besitzer und Geschäftsführer der Eldares Modern Construction and Real Estate und Freund des Außenministers, konnte niemandem zurückrufen. Er hockte den ganzen Tag, das Kinn in die Hände gestützt, vor dem Badezimmerspiegel und starrte ins Leere. Hin und wieder wanderte sein Blick verloren in den Spiegel, ganz sacht, dann murmelte er das Wort „wenn“ und schaute anschließend wieder ins Nichts. Wenn sein Blick länger im Spiegel verweilte, bellte er das Wort mehrmals heraus, und sein Körper zitterte unkontrolliert, bis er die Augen vom Spiegel abwandte und eine nervöse Ruhe erlangte.
    In den ersten Tagen des Gebrechens glaubte Vinjinia, der Spiegel sei für den Zustand ihres Mannes verantwortlich. Deshalb lockte sie ihn eines Abends ins Bett, hängte, als er eingeschlafen war, den Spiegel um und hoffte, Tajirikas heftigen „Wenns“ ein Ende zu bereiten.
    Am folgenden Morgen war Tajirikas Gesicht die Heiterkeit selbst, als wäre die Krankheit durch den arbeitsfreien Vortag verschwunden. Mit Begeisterung ging er an seine Morgenrituale, ein klarer Hinweis auf seine Absicht, wie üblich ins Büro gehen zu wollen. Vinjinia hoffte, seine Krankheit nicht noch einmal ansprechen zu müssen. Noch eine letzte Hürde, dann wird alles gut, dachte sie, als sie ihn ins Badezimmer gehen sah. Eine Sekunde später schrie Tajirika, wer den Spiegel von der Wand genommen habe. Wie solle er sich ohne Spiegel rasieren? Er beschuldigte die Kinder und drohte ihnen Prügel an, womit er Vinjinia zwang, sich zu ihrer Tat zu bekennen. Sie habe vergessen, ihn wieder hinzuhängen, als sie die Wand gewischt habe, sagte sie. Ihre List hatte versagt, denn als der Spiegel wieder an seinem Platz hing, kehrten die „Wenns“ mit unverminderter Kraft zurück. Wieder war es Vinjinia, die ins Büro ging, während Tajirika zu Hause blieb und erneut den Tag im Bad zubrachte.
    Es wurde immer schlimmer. Hilflos musste Vinjinia zusehen, wie sich Tajirika zwischen „wenn“ und „wenn ich bloß“ das Gesicht zerkratzte. Dann zog er sich aus und sprang in die Badewanne, um sich schweigend am ganzen Körper zu kratzen. Er verlor die Sprache, bis auf diese zwei Worte. Wieder hängte sie den Spiegel ab und ließ sich durch nichts dazu bringen, ihn wieder aufzuhängen.
    Als er aus der Wanne stieg, schien Tajirika geschockt und verwirrt, den Spiegel nicht mehr an der Wand zu sehen. Weil er aber die Sprache verloren hatte und nur noch „wenn“ und „wenn ich bloß“ stammeln konnte, gestikulierte er nur wild herum. Schließlich durchwühlte er Vinjinias Handtasche und fand einen kleinen Spiegel. Den ganzen Tag hielt er den Spiegel in der Hand, kratzte sich und sprang von Zeit zu Zeit in die Badewanne. Selbst als er an diesem Abend ins Bett ging, hielt er den Spiegel in der Hand wie ein Kind sein Kuscheltier. Als Vinjinia aus

Weitere Kostenlose Bücher