Herr der Moore
schleudern, aus der die verhasste, spöttische Stimme kam. Tabitha hatte ihn verraten, ihn zum Ball gelockt und ihrem Bruder den Rest überlassen. Ihrer verlockenden Einladung lagen also keine tieferen Empfindungen zugrunde. Im Zuge der aufkeimenden Zuneigung ihr gegenüber war er einem Irrglauben verfallen in der Hoffnung, sie fühle genauso. Aber zuletzt hatte sie ihn zum Narren gehalten – alle Welt tat dies, verulkte den armen, blinden Jungen nach Strich und Faden. Jetzt flammte sein Zorn gegen die Hitze des Feuers auf und schien ihn innerlich zu verzehren. Er trachtete danach, etwas zu zerstören oder zu verletzen … jemanden zu verletzen.
»Monate später erfuhr ich die Wahrheit über Sylvia«, erklärte Stephen. »Die Gründe erfuhren wir nie, doch die Dorfleute hatten sie zum Tod verurteilt. Am Tag ihrer Hinrichtung flüchtete mein Bruder mit ihr. Er brachte sie mit nach England – sie entging der Steinigung, und er erhielt eine Frau.
Von Anfang an war klar, dass sie keine gewöhnliche Bäuerin war, die sich bereitwillig unter den Scheffel stellte. Vielmehr zeigte sie eine heißblütige Unbeugsamkeit und ließ sich in ihrer Lüsternheit genauso wenig zügeln. Dies zog die Männer umso stärker an und machte sie zu willenlosen Schafen. Je länger ihre Ehe mit meinem Bruder währte, desto schwächer und gleichzeitig nervöser wurde er. Sylvia reizte ihn zunehmend weniger, außer der Teufel ritt ihn; dann musste sie seine gewaltsamen Neigungen ausbaden, weshalb sie letztlich zu mir kam. Ich wurde ihr Geliebter und genoss ihre Zügellosigkeit, wohingegen sie sich hochmütig gab und Abstand wahrte, wenn wir nicht gemeinsam im Bett lagen. Sprach ich sie auf ihre Launen oder die Vergangenheit an, die so schwer auf ihr zu lasten schien, bot sie mir bestenfalls bruchstückhafte Einblicke, die mich noch neugieriger machten und fast in den Wahnsinn trieben. Es ging um ihr Dorf, abergläubischen Unsinn über Geschöpfe, mit denen man seit Jahrhunderten zusammenlebe. Sie nannte sie strigoi , doch mehr gab sie nie preis. Stattdessen ließ sie mich mit meinen Fragen allein – und dem unstillbaren Drang, ihr nahe zu sein. Sie wurde eine Art Droge für mich, Opium in einer reizend gestalteten Hülle. Wir trafen uns immer regelmäßiger, bis sie mir genug erzählt hatte, um mich das Fürchten zu lehren. Dabei begann ich, mir Sorgen um ihren Geisteszustand zu machen. Das Gleiche hatte sie meinem Bruder erzählt, wie sie mir versicherte, und langsam zermarterte es seinen Verstand, denn er hatte es nicht glauben wollen und ihr deshalb aufgetragen, es zu beweisen.
Edgard überließ mir großzügig eines der Zimmer in seinem Haus und verlangte nichts dafür. Dort zeigte sie mir eines Nachts, was es mit den strigoi auf sich hatte – oder den strigoaica , den weiblichen Vertretern dieser Fabelwesen, zu denen sie angeblich selbst gehörte. Sie stellte sich vor mich und zog sich aus, was ich wie jeder andere in dieser Situation dahingehend auffasste, sie wolle mit mir schlafen, doch sie verwandelte sich. Vor meinen Augen verfärbte sich ihre Haut silbern, als sei sie binnen Sekunden zu Eis erstarrt, und doch bewegte sie sich weiter. Ein Blinzeln, und ihre braunen Augen leuchteten wie Messing im Sonnenschein. Ihr Haar wurde dichter und länger, während ich auf meine Faust biss, um nicht zu schreien. Ob ich versuchte, zu türmen, weiß ich nicht mehr, bloß dass ich mich verzweifelt darum bemühte, es als Hirngespinst abzutun, als Kniff der Zigeuner aus ihrem Land, den sie zur Kunstform erhoben hatten oder als Waffe verwendeten. Ich kroch auf der Matratze zurück und wollte nicht hinsehen, aber es war unmöglich. Am Fuße des Bettes stand mitnichten die rumänische Schönheit, welche mein Bruder mitgebracht hatte, sondern eine grässliche, heimtückische Kreatur, die wie eine Statue aussah. So platzte auch ihr Fleisch auf, und durch die Risse zischte Luft. Mit einem Mal zog sich ihr Gesicht lang und zeigte ein breites Maul mit langen, rasiermesserscharfen Zähnen. Am schlimmsten aber war, dass ich im marmorierten Antlitz dieses Scheusals immer noch Sylvia erkannte, die meine Reaktion abzuwägen schien. Ich mochte irre werden, falls ich mich nicht dazu durchringen konnte, es als Trugbild zu deuten. Allein, es funktionierte nicht. Es war schiere Hexerei.«
Stephens Dringlichkeit versetzte Neil in Alarmbereitschaft. Ob ein Funken Wahrheit in dieser aberwitzigen Geschichte steckte oder nicht, so war es anhand des Verhaltens seines
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