Herr der Moore
war mein Bruder.«
***
Grady öffnete die Haustür und behielt Kate, deren Regenmantel innerhalb der kurzen Zeit kaum getrocknet war, im Auge. Das Wetter war nach wie vor unwirtlich. Kate hielt die Pistole unbeholfen fest; zu groß wirkte sie in ihrer Hand, und Grady merkte, wie das Mädchen anstrebte, sich die Last nicht anmerken zu lassen, die der Revolver bedeutete.
»Immer noch sicher, dass Sie das tun wollen?«, hakte er nach und bat um jeden Gefallen, der ihm Gott, die Welt oder das Schicksal noch schuldig sein mochte für all das Pech, welches er im Laufe seines Lebens erduldet hatte, auf dass sich Kate umentschied. Leider blieb sie beharrlich.
»Er ist mein Bruder«, erinnerte sie, »und ich will ihn wiedersehen und diejenige sein, die ihm sagt, dass Daddy wach geworden ist. Durch meine Hand soll er nach Hause zurückfinden.«
»Falls er dies in der Zwischenzeit aus eigenen Stücken schafft, werden Sie ihm überhaupt nichts sagen können.«
»Das wird nicht geschehen. Sie wissen das so gut wie ich.«
Grady starrte sie an, eine wunderschöne junge Frau, deren Inbrunst ihn bisweilen verstörte. Er würde sie nicht davon überzeugen können, es sei weiser, daheimzubleiben. Was ihr draußen zustoßen mochte, wagte er sich nicht vorzustellen.
»Dann brechen wir auf«, beschloss er und klemmte die in Leder eingeschlagene Winchester unter seinen linken Arm. Mit vorgehaltener Lampe führte er Kate in den Regen.
***
Hinter ihnen hob Mrs. Fletcher eine Hand und hielt die andere vor den Mund. Sie war im Gegensatz zu vielen Frauen im Dorf weder empfänglich für Visionen, noch hegte sie üblicherweise starke Vorahnungen, doch in diesem Moment, da Grady und Kate geduckt durch den strömenden Regen zogen, beschlich sie die beklemmende Gewissheit, sie werde die beiden nicht wiedersehen.
Bevor sie sich zu Tränen hinreißen ließ, trat sie zurück in die Diele und schloss die Tür vor dem Unwetter. Dann verharrte sie, indem sie beide Hände gegen das Holz drückte. Bis sie sich wieder gefasst hatte, atmete sie ungleichmäßig, dann drehte sie sich um und betrachtete die Wohnzimmertür am Ende des Ganges. Nach wie vor konnte sie nicht glauben, dass der Master zu sich gekommen war; andererseits wünschte sie sich, er sei liegen geblieben, denn sein Erwachen schien eine Lawine losgetreten zu haben, die weiter heranrollte, um sie alle unter sich zu begraben.
Wieso hatte sie ihn einsperren sollen?
Sie wusste sich keinen Reim darauf zu machen, doch was sie von seinem Gespräch mit Grady mitbekommen hatte, jagte ihr gehörigen Schrecken ein. Also schlug sie eilig ein Kreuz und begab sich in die Küche, um den Wasserkessel aufzusetzen. Eine lange Restnacht stand ihr bevor.
22
Neil rieb sich die Hände vor den Flammen.
»Mit dem Tod meines Onkels fing es an. Er war ein wohlhabender Gelehrter und hieß Arthur Callow, anstrengend war er allerdings auch, weil er sich wie ein Tölpel gerierte und sein Geld aus dem Fenster warf, etwa für mildtätige Spenden oder Reisen in Seuchenherde überall auf der Welt, um Gottes Wort zu verbreiten. Oft fragte ich mich, weshalb er nicht Priester geworden war, wo er sich doch in fast allen Belangen wie einer aufspielte.«
Neil schlotterte trotz der Hitze und rückte noch dichter ans Feuer. Stephen sprach so monoton, dass er aufpassen musste, nicht einzuschlafen, denn davor grauste ihm. Was mochte dieser Kriminelle dann mit ihm anstellen? Er zog die Knie bis zum Kinn an und legte die Arme um die Beine. Dann betete er im Stillen darum, das Gerede des Mannes erweise sich letztlich als glatte Lügen, mit denen er nichts weiter im Sinn hatte, als ihn an diesem Ort festzuhalten.
»Seine letzte Fahrt führte ihn in ein Elendsdorf in Rumänien namens Calinesti. In Briefen deutete er an, gern auch den Rest des europäischen Festlandes zu bereisen, doch dieser Fleck war sein letzter Halt.
Was immer ihn an Calinesti reizte, hielt ihn ein halbes Jahr dort fest. Während dieser Zeit bandelte er mit den Bewohnern an und sorgte dafür, dass es ihnen deutlich besser ging. Vermutlich gefiel Arthur allzu gut, wie sie ihn verehrten, was eine Abreise umso schwieriger machte. Er ließ eine Kirche bauen, nachdem er brüskiert festgestellt hatte, dass sie seit über einem halben Jahrhundert keine besessen hatten. Dann zahlte er einem Pfaffen aus Bukarest eine horrende Summe, um jeden Monat Gottesdienst zu halten. Scheinbar hatte Calinesti lange als verwunschener Ort gegolten. Also stimmte der Pastor
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