Herr der Nacht
Nacht vom Himmel gefallen sein«, sagte sie, aber als sie näher kam, sah sie sehr wohl, was es war. Der Wasserkrug fiel ihr aus den Händen, die sie zusammenschlug, und ihre Augen brannten sehr hell. Alles, was sie sich wünschte auf der Welt, war, das Halsband herabzunehmen und um ihren Hals zu legen und die Juwelen auf ihrer Brust erstrahlen zu lassen, aber sie konnte den Zweig nicht erreichen, an dem das Schmuckstück hing. Während sie so dastand, kam die zweite Priesterin, um nach ihr zu sehen.
»Nun, Schwester, was starrst du so?«
»Ach nichts. Hier ist gar nichts!« rief die Jüngste. Natürlich schaute die zweite Priesterin sofort nach oben und sah es auch sofort. »Es gehört mir!« rief die Jüngste. »Ich habe es zuerst gefunden. Du sollst es nicht haben.«
»So nicht!« sagte die zweite, »ich bin älter als du, und ich werde es bekommen.« Und indem sie den Wasserkrug vom Boden aufhob, versetzte sie der jüngsten Priesterin damit solch einen Schlag, daß sie tot daniederfiel.
In diesem Augenblick kam die älteste Priesterin, da sie den heftigen Lärm gehört hatte, zu dem Hain gestürzt.
»Hier kommt noch eins von diesen Ungeziefern«, murrte die zweite Priesterin. Sie hob den Wasserkrug wieder auf, und es dauerte nicht lang, bis die älteste Priesterin das gleiche Schicksal erlitt wie die erste. Dann, ungeachtet ihres grausigen Werkes, das um sie herum auf dem blumenübersäten Gras lag, setzte die zweite Priesterin sich vor den Baum und starrte auf das Halsband.
»Bald«, murmelte sie, »werde ich einen Weg finden, dich herabzuholen und um meinen Hals zu tragen, aber bis dahin bin ich zufrieden, dich bloß zu bewachen.«
Die Sonne stieg hoch in den Himmel, und sie saß noch immer unter dem Baum. Die Felstürme verfärbten sich golden, dann karmesinrot, als der Tag auf seinen Flügeln gegen Westen flog. Dann war aller rötlicher Glanz von der Erde und vom Himmel verschwunden, und grünes Dämmerlicht erfüllte das Tal. Und immer noch saß die letzte der Priesterinnen unter dem Baum und sah nichts als das Halsband zwischen den Zweigen.
Kurz darauf kam die kleine Schlange vom Tempel herbeigekrochen. Sie war einsam, hungrig und verdrießlich, denn niemand hatte sich um sie gekümmert oder sie gefüttert. Als sie die letzte Priesterin im Hain erblickte, schlängelte sie sich froh zu ihr hin und wickelte sich um ihren Knöchel. Doch die Priesterin nahm keine Notiz davon. Darauf schaute die Schlange nach oben und sah, was da im Baum hing.
Es war, als ob sich ein Funke in ihrem Hirn entzündete. Solcherart war das Halsband Vayis, daß alle Wesen der Erde, menschliche oder andere, es begehrten. Als ob sie aus einer tödlichen Wunde blutete, so sickerte jeder Tropfen ihres Sanftmutes hinweg. Mein , dachte sie, wie all die anderen gedacht hatten, und sie biß die Priesterin mit ihren giftigen Fangzähnen in die Ferse, so daß sie alsbald ebenfalls ohne Atem auf der Erde lag.
Einen Augenblick lang fühlte die Schlange sich schrecklich trostlos und verloren, danach hatte sie die Empfindung von Wut und Macht. Ihre verzweifelte Einsamkeit verwandelte sich in siedenden Stolz. Sie streckte sich, um sich um den breiten Stamm des Baumes zu wickeln, und begann zu wachsen. Sie blies sich auf vor Haß und Anmaßung, sie schwoll an und wurde länger. Dreimal wand sich ihr geschmeidiger Leib um den Stamm, und sie legte ihren flachen, grausamen Kopf auf den Zweig, an dem das Halsband hing.
Nacht kam und schwärzte das Gesicht der Welt, und die Schlange wurde ebenfalls schwarz und nahm die Farbe ihres wütenden Grolls an, und ihre Augen verwandelten sich in silbrige Schlitze vom Starren auf sieben hellglänzende Juwelen.
*
Jahre vergingen, Jahre der Sterblichen. Das Dach des Tempels fiel ein, die Säulen zerkrümelten; er wurde zur Ruine. Der Wasserfall vertrocknete an seiner Quelle, und die Blumen starben. Die Bäume welkten und starben ebenso. Nur der große Baum, der Baum mit dem Halsband in seinen Zweigen, fuhr fort zu leben und zu wachsen, obgleich auch er, wie die Schlange, dunkel und widerlich geworden war. Die Schlange lebte auch. Solange ihr Zorn und ihr eifersüchtiger Stolz andauerten, konnte sie nicht sterben. Sie schlief niemals, rollte sich um den Baum, und wenn Menschen mit Fackeln, Liedern oder Messern sich näherten, spie sie aus ihrem zischenden Maul ein Gift, das angefüllt war mit ihrem Haß und alles zerstörte, was damit in Berührung kam. Das Gras war braun und zusammengeschrumpft und voll
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