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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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es vernichten. Deshalb wird jedes Kind, ob männlich oder weiblich, an seinem dritten Geburtstag von den Priestern untersucht, und wenn eines als derart befunden wird, daß es wahrscheinlich die Strafe der Götter auf sich ziehen wird, läßt man es in weißes, heißes Feuer blicken, bis das Sehvermögen aus den Augen herausgebrannt ist. Auf diese Weise wird die Eifersucht der Götter abgewendet. Und aus diesem Grund sind in meinem Land alle, die schön sind, blind.«
    »Bist du denn schön?« fragte die Schlange.
    »Es scheint, daß sie mich so befanden«, antwortete der Fremde, doch es war kein Groll oder Bedauern in seiner Stimme.
    »Komm ganz nah«, flüsterte die Schlange, »und laß mich dich anschauen, denn auch ich bin fast blind vom Starren in ein Silberfeuer. Ich werde dir nichts zuleide tun, hab’ keine Angst. Du hast schon genug gelitten.«
    Der Fremde erhob sich. »Arme Schlange«, sagte er und kam ganz ohne Furcht näher, indem er sich den Weg mit den Händen und einem schlanken Stab ertastete, auf den er sich stützte. Bald darauf, als er den Baum erreichte, langte er nach oben, nicht wegen des Silberhalsbandes, sondern um den Körper der Schlange zu streicheln. Die Schlange ließ ihren Kopf hinunter und starrte ihn an. Der Fremde war ein junger Mann, in der Tat so schön wie ein Gott hätte sein mögen. Sein Haar war bleich wie Gerste unter weißer Sommersonne. Seine Augen zeigten kein Mal von der Blendung; sie waren so grün und klar wie die feinste Jade. Sein Körper war schlank und stark.
    Die Schlange fühlte eine große Müdigkeit und ließ ihren Kopf auf der Schulter des blinden Mannes ruhen.
    »Erzähle mir, wer dein Augenlicht genommen hat, sag mir deinen und ihre Namen, damit ich ihnen um deinetwillen Übles wünschen kann.«
    Aber der Fremde streichelte den Kopf der Schlange und sagte: »Mein Name ist Kasir, und was die anderen betrifft, so sind sie genug gestraft. Sie nahmen mein Augenlicht, aber meine anderen Sinne haben sich geschärft. Wenn ich etwas berühre, kenne ich es. Als ich durch dies Tal ging, habe ich seine ganze Geschichte erfahren durch bloßes Streifen von langem Gras an meinem Handgelenk, oder von einem warmen Stein, den ich vom Wege aufhob. Und wenn ich dich anfasse, begreife ich deine Trauer und deine Bürde weit besser, als wenn ich dich gesehen und mich gefürchtet hätte.«
    »Ach, du verstehst mich«, seufzte die Schlange mit ihrem Gesicht an seinem Nacken. »Einst war ich glücklich und unschuldig. Einst wurde ich geliebt und liebte. Ich habe mich so lange gesehnt und nie meine Hoffnung gekannt. Oh, gib mir Frieden, blinder Kasir, gib mir Ruhe.«
    »So ruhe denn«, sagte der junge Mann, und er sang der Schlange ein leises, goldenes Lied. Es handelte von Schiffen, die aus Wolken gemacht sind, und von dem Schlummerland, wo der Schlaf aufsteigt wie Nebel, um den Kummer der Welt zu trösten. Als die Schlange es hörte, sank sie in Schlaf, ihren ersten süßen Schlaf seit Jahrhunderten, und in ihrem Schlaf starben ihr Neid und ihre Wut, und bald darauf starb auch sie, so sanft und dankbar wie sie eingeschlafen war.
    Kasir fühlte das Leben der Schlange entweichen, und da er nicht mehr tun konnte, küßte er ihren kalten Kopf und wendete sich ab. Plötzlich brach ein Zweig hinter ihm mit einem scharfen Laut, und dann war ein Läuten von Glöckchen zu hören, die durch die Luft fallen. Kasir streckte die Hand aus, bevor er überlegen konnte, und Vayis Halsband plumpste hinein.
    Er hielt es nur für einen Augenblick.
    Dies Ding ist verflucht , dachte er, das Werk von Dämonen. Es hat viel Böses angerichtet und wird mehr anrichten, falls ich es nicht im Erdboden verstecke. Dann, als seine Finger es betasteten, berührte er die sieben magischen Juwelen.
    Andere, die sie gesehen hatten, hatten danach gedürstet. Aber Kasir sah nur mit seinen Fingerspitzen, und dies mit seiner seltsamen Fähigkeit. Einen Moment lang hielt er den Atem an und sagte dann:
    »Sieben Tränen, in Verzweiflung vergossen unter der Erde, sieben Tränen, vergossen von einer Blume, die eine Frau ist.«
    In dieser Sekunde wußte er alles: nicht nur die blutige Geschichte des Halsbandes, sondern auch, was dem vorausgegangen war, der kleine Drin, der in seiner Esse hämmerte, Bakvi, der Wurm in Asrharns Garten. Aber mehr als all dies, er erkannte Ferashin, die Blüten-Geborene, die am See in der Unterwelt weinte, nach Sivesch und nach der Sonne.
6
Kasir und Ferashin
    Viele Monate lang wanderte Kasir über

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