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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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täglich in ihrem von Leoparden gezogenen Wagen durch die Stadt zu fahren. Ihre Sklaven pflegten hinter, neben und vor dem Wagen her zu gehen und auszurufen: »Verbeugt euch vor des Königs Erster Gemahlin, Königin der Stadt!« – und jeder verbeugte sich sogleich; oder, wenn sie es nicht taten, pflegten die Sklaven sie zu ergreifen und ihnen die Hände oder Füße abzuhacken, je nachdem, was ihre Herrin an jenem Tag bevorzugte.
    Eines Nachmittags, als die Königin ausfuhr, sah sie auf einem Balkon etwas glitzern.
    »Geh, vierter Sklave zu meiner Rechten«, sagte sie, »und hol mir, was immer es auch sei, das da glitzert!«
    Der ausgewählte Sklave eilte davon und kam schnell mit einer Frau zurück, die er herbeizerrte; es war keine andere als die Juweliersfrau mit dem Silberhalsband um ihren Hals.
    »O kaiserliche Herrin, dieser Schmuck ist es, den Eure Schönheit glänzen sah, aber die Frau weigert sich, ihn herzugeben, und sieh hier, sie hat mich gebissen und gekratzt, als ich versuchte, ihn zu nehmen.«
    »So schlagt ihr auf der Stelle den Kopf ab«, sagte die Königin, »denn ich werde keine Gemeinheit in der Stadt meines Gemahls dulden.«
    Dies wurde sogleich getan, das Blut vom Halsband in parfümiertem Wasser abgewaschen (dies wurde zu eben diesem Zweck immer mitgeführt, da die Hände und Füße, die die Königin abzutrennen befahl, gewöhnlich mit Juwelen geschmückt waren); mit einem Seidentuch wurde die Kette abgetrocknet und der Königin hinaufgereicht. Mit funkelnden Augen legte die Königin das Schmuckstück um ihren eigenen Hals.
    Bald sank die Sonne, und die Königin erschien beim Bankett, das der König, ihr Gemahl, jede Nacht in seinem Thronsaal gab. Alle staunten über das Halsband und viele starrten darauf mit hungrigen Augen und vergaßen die Speisen auf ihren Tellern. Der König selbst streckte die Hand aus, um mit den sieben Juwelen zu spielen.
    »Was für ein herrliches Halsband, mein Täubchen. Woher hast du es? Es sieht sehr schön aus auf deinem weißen Teint, aber denk einmal, wie unvergleichlich es am Hals eines Mannes erschiene, denn sicherlich ist es zu schwer für deinen zarten Hals und du gedenkst, es mir zu geben?«
    »Keineswegs«, sagte die Königin.
    »Aber du wirst es mir doch gewiß leihen?« schmeichelte der König. »Leih es mir, und ich will dir einen Türkis geben, den ich besitze, der größer ist als meine Handfläche.«
    »Unsinn«, sagte die Königin, »ich habe den Türkis gesehen, von dem du sprichst, er ist nicht größer als dein Daumen.«
    »Nun gut dann, ich werde dir fünf Saphire geben, die blauer sind als die Traurigkeit. Oder ein Kästchen aus seltenem Holz voller Perlen, von denen jede von einer anderen Küste stammt.«
    »Nein«, sagte sie, »ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.«
    Der König kochte innerlich und wurde sehr zornig, aber er ließ sich nichts anmerken. Als das Fest zu Ende war, ging er heimlich hinaus in die Nacht zu einem hochgelegenen Ort in den Palastgärten. Hier wandte er sich bei Sternenlicht nach Osten, Norden, Süden und Westen und sprach gewisse Zauberformeln, die er in seiner Jugend von einem Zauberer gelernt hatte. Zuerst war alles ruhig, aber kurz darauf ertönte ein Brausen wie ein Winterwind, der über den Himmel fegt, die Baumwipfel kämmten den Mond und ein breiter Schatten wurde wie ein Netz über den Boden geworfen. Der König zitterte, aber er stand fest. Ein fürchterlicher dunkler Vogel hatte sich auf dem Rasen niedergelassen: größer als drei Adler, mit einem grausam gebogenen Schnabel, Klauen wie Haken aus Bronze und rubinroten Augen, heiß wie das Feuer.
    »Sprich«, sagte der schreckliche Vogel, »denn du hast mich mit deinem kleinen Spruch von einem Mahl hoch oben in den Felsklippen meiner Wohnstatt geholt.«
    Den König schauderte, aber er sagte: »Meine erste Frau hat einen Halsschmuck, den sie mir nicht geben will, obwohl ich ihr Gemahl bin und ein Anrecht darauf habe. Pack sie und fliege mit ihr hinauf in den Himmel! Wenn sie um Gnade schreit, heiße sie, dir das Halsband zu geben, und dann bring es her zu mir.«
    »Und sie?« fragte der Vogel.
    »Sie ist mir gleich«, sagte der König, »und es kümmert mich nicht, was du tust, solange ich nur jenes Halsband habe und niemand mir eine Schuld nachweisen kann.«
    »Also muß ich handeln, wie du verlangst, da du mich mit dem Zauberspruch gerufen hast.«
    Der Vogel war kein Dämon, sondern ein Wesen der Erde, eine der ungeheuerlichen Schöpfungen, die wie

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