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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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die Erde, Kasir der blinde Poet, Kasir, dessen Gesang Gold war. Er suchte nach einem Weg zur Unterwelt, einem Weg zu Ferashin. Ein Zauber war über ihn verhängt worden, kein Zauber der Habsucht, sondern des Mitleidens, der Liebe. Aber wer konnte ihm erzählen, was er wissen mußte? Der Name Asrharns wurde nur in Schatten und im Flüsterton gestammelt. Außerdem hatte er so viele Namen: Herrscher der Finsternis, Herr der Nacht, Schmerzenbringer, der Adler-Geflügelte, der Schöne, der Unaussprechliche. Der Eingang zu seinem Königreich war das Herz eines Berges am Mittelpunkt der Erde, aber wer konnte den Ort finden, welche Landkarte verriet ihn? Und wer würde es wagen, dorthin zu gehen, wagen, einen blinden Mann an solch einen Ort zu führen, wo aus Felsschlünden Flammen schossen und der Himmel voll scharlachroten Rauches war?
    Kasir verzweifelte nicht, doch sein Herz war schwer. Er verdiente sein Brot, indem er Lieder machte, und manchmal heilten seine Lieder die Kranken oder die Verrückten, denn solcherart war seine Zaubermacht. Obwohl er blind war, gewährte fast jedes Haus ihm freudig Unterkunft, und obwohl er blind war, würde fast jede Frau, die ihn sah, freudig ihre Tage an seiner Seite verbracht haben. Aber Kasir ging vorüber, wie eine Jahreszeit vergeht und suchte nur immer einen Weg zu Ferashin.
    Er trug das Halsband in seinem Hemd versteckt, da er verstand, welch Übel es den Menschen brächte, aber wenn er allein war, pflegte er hineinzugreifen und die sieben Juwelen zu betasten, und in sein Inneres stahl sich die Gegenwart Ferashins. Er konnte sie nicht sehen, nicht einmal mit einem inneren Auge, denn er war zu jung geblendet worden, um sich viel an Bilder, Farben und sichtbare Formen zu erinnern. Eher kannte er sie wie andere eine Rose erkennen mögen, deren Duft sie in einem nächtlichen Garten einatmen, oder einen Springbrunnen, dessen spielende Erquickung sie über ihre Hände rinnen spüren.
    Eines Tages in der Abenddämmerung kam er hoch oben auf einem offenen Tafelland an ein Steinhaus. Hier lebte eine alte Frau, die einstens die Kunst der Hexerei praktiziert hatte, und obwohl sie zuletzt so weise gewesen war, ihre Bücher wegzulegen, hing noch immer der Geruch von Zaubersprüchen über diesem Ort.
    Kasir klopfte. Die alte Frau kam heraus. Sie hatte einen Zauberring behalten: wenn das Böse vor ihr stand, brannte der Ring, wenn das Gute nah war, verfärbte er sich grün. Diesmal glänzte er wie ein Smaragd, und die alte Frau bat ihren Besucher herein. Sie sah, daß er schön war und blind, und aus den Jahren ihrer Hexerei war sie klug. Sie gab ihrem Gast zu essen, und bald darauf sagte sie: »Du bist Kasir, der Närrische, der nach dem Weg zur Unterwelt sucht. Ich habe gehört, du erschlugst eine schreckliche Schlange in einem verlassenen Tal und trugst einen legendären Schatz davon.«
    »Weise Dame«, sagte Kasir, »die Schlange starb an Altersschwäche und Kummer. Der Schatz ist in Menschenblut getränkt und nichts wert. Ich trug einzig und allein einen quälenden Schmerz in meinem Herzen davon nach einem anderen Schatz, einer Jungfrau, die in der Unterwelt nach Licht und Liebe weint.«
    »Eine reizende Jungfrau«, sagte die Hexenfrau, »eine Jungfrau, die aus einer Blume entstanden ist. Vielleicht weiß ich einen Weg zu ihr. Bist du mutig genug, ihn zu gehen, blinder Kasir? Tapfer genug, ohne Augen entlang der Grenzen des Todes zu suchen?«
    »Sag ihn mir nur«, sagte Kasir, »und ich will gehen. Ich kann nicht ruhen, bevor sie nicht Ruhe gefunden hat, die Schöne unter der Erde.«
    »Mein Preis sind sieben Lieder«, sagte die Hexe. »Ein Lied für jede von Ferashins Tränen.«
    »Ich werde mit Freuden bezahlen«, sagte Kasir.
    So sang Kasir, und die Hexe hörte zu. Die Musik lockerte die Steifheit ihrer Gelenke, löste die Knoten in ihren Händen und ein bißchen ihrer Jugend kam zu ihr zurück, wie ein Vogel, der in ein Fenster flattert. Als die Lieder zu Ende waren, sagte sie:
    »In der Unterwelt, an den Grenzen von Asrharns Königreich, windet sich ein Fluß mit Wasser, das schwer ist wie Eisen und von der Farbe des Eisens, und an seinen Ufern wächst weißer Flachs. Dieser Fluß ist der Fluß des Schlafes, und an seinen Rändern wandern bisweilen die Seelen schlafender Menschen. Die Dämonenprinzen jagen diese Seelen dort mit Bluthunden. Wenn du es wagst, kann ich dir einen Trank mixen, der dich schnell in die Höhle des Schlafs hinunterschicken und deine Seele an jene Ufer spülen

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