Herr der Nacht
neuer Blumen, weißer Blumen: Knochen.
Eine niederdrückende Stimmung lag über dem Tal. Die Menschen mieden es, es war verödet. Die Legende von einem Schatz in einem Baum und einer Schlange, die ihn eifersüchtig bewachte, wuchs. Also kamen die Helden.
Manche kamen mit Armeen, manche allein; einige kamen auf Pferden, in einer Rüstung, geschützt durch einen Zauberspruch, mit Schwertern aus blauem Metall; andere zu Fuß mit angeborener Schlauheit und wildem Herzen. Alle gingen zugrunde. Ihre Knochenblumen fügten sich zu den anderen, die im fauligen Gras lagen, und ihre Namen gingen ein in Mythen oder wurden vergessen. Nach fünf Jahrhunderten, oder zehn, kamen keine Helden mehr.
Und nach der Zeit der Helden kam eine Zeit der Leere.
Die Schlange lag ausgestreckt in ihrer vollen, schwarzen Länge um den Baum und darauf, von ihren Kiefern tropfte Gift, das sie bereithielt, und sie dachte nur immer: ›Der Schatz gehört mir, nur mir allein. Du sollst ihn nicht haben.‹
Aber hinter ihren Gedanken begann ein schmerzliches Sehnen sich auszubreiten, ein Verlangen in ihrer Schlangenseele. Ein Sehnen wonach? Sie wußte es nicht, während sie mit weitgeöffneten Augen jahrhundertelang dalag. Manchmal, wenn der trockene Wind das Gras aufrührte, stieß sie vor und spie Tod in den Wind, nach einem neuen Helden hungernd. Aber dann wurde sie müde und lag nur noch da, geblendet und träumend, mit ihrem flachen Kopf auf dem Zweig, und dachte: ›Mein, nur mein. Niemand soll meinen Schatz von mir nehmen.‹
Doch sie hatte inzwischen vergessen, was ihr Schatz war.
*
Eines Tages, als der Himmel sich wie eine Kuppel aus Saphirglas über das öde Tal wölbte, hörte die Schlange im Eingang der Tempelruine menschliche Schritte. Sie erhob sich, und ihre Augen wurden ein bißchen klarer. Sie sah einen Schatten – sie sah jetzt alles in Schatten – einen Schatten wie von einem Menschen. Die Schlange zischte, und siedendes Gift tropfte auf den Boden unter dem Baum.
Der Schatten hielt inne, wo er war, nicht als ob er sich fürchtete, eher als ob er lauschte.
Die Schlange hatte vor Jahrhunderten die Sprache der Menschen gelernt, denn Haß und Eifersucht müssen eine Zunge finden; nur die Geschöpfe, die dies niemals fühlen, brauchen nicht zu reden. Daher sprach die Schlange: »Komm näher, Mensch, der du von einer Frau geboren wurdest, damit ich, die Schlange des Tales, dich töten kann.«
Aber anstatt wegzulaufen oder näherzukommen – wie es die Abenteurer mit ihren Schwertern törichterweise getan hatten – setzte die Schattengestalt sich auf eine der zerbrochenen Tempelsäulen.
»Warum solltest du mich töten wollen?« fragte der Mann, und seine Stimme war fremdartig und neu im Tal, nicht metallen und schreiend oder schmeichelnd und flehend wie die Stimmen der Helden, noch rauh wie der Wind oder monoton wie der Regen, sondern melodiös und sehr angenehm. Es war eine Stimme, die eine Farbe zu besitzen schien wie Topas.
Die Schlange verhielt sich ganz still beim Klang dieser Stimme, denn sie schien das schmerzliche Sehnen in ihrer Seele um ein Vielfaches zu steigern, jedoch seltsamerweise linderte sie es gleichzeitig.
»Ich töte jeden, der hier vorbeikommt«, sagte die Schlange trotzdem, »denn alle, die hier erscheinen, kommen nur deshalb, um meinen Schatz zu stehlen.«
»Was für ein Schatz ist das?«
»Sieh herauf in die Zweige des Baumes«, verkündete die Schlange mit bitterem Vergnügen, »und du wirst ihn sehen.«
Darauf lachte die Stimme, sehr sanft, beinahe freundlich, und das Lachen war wie Wasser für die ausgedörrte Erde.
»Ach, ich kann deinen Schatz nicht sehen, denn ich bin blind.«
Die Worte schnitten der Schlange in den Leib, scharf wie das Schwert eines der Helden. Daß ein Mensch, der mit solch einer Stimme sprach, blind sein sollte, verletzte die Schlange irgendwie, vielleicht weil sie inzwischen ebenfalls nahezu blind geworden war.
»Wurdest du ohne Augen geboren?« fragte sie.
»Nein, ich habe Augen, doch sie können nichts sehen. Aber ich komme aus einem Land mit einem alten Brauch.«
»Erzähl mir davon«, raschelte die Schlange auf dem Zweig, denn zum ersten Mal seit langen, langen Jahren war sie von Mitleid berührt und von Teilnahme.
»Das Land, in dem ich geboren wurde«, sagte der Fremde, »lebt in großer Furcht vor seinen Göttern. Die Menschen dort glauben, daß, wenn ein Kind von ungewöhnlicher Schönheit geboren wird, die Götter seinetwegen in Zorn geraten werden und
Weitere Kostenlose Bücher