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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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zögerte sie, sondern ging auf den Spiegel zu, und Brust traf auf Brust, Glied auf Glied und Handfläche berührte Handfläche. Einen Augenblick lang spürte sie den kühlen Widerstand des Glases, dann schien der Spiegel sich zu erwärmen und zu schmelzen. Warme, begierige Hände umfingen sie, zogen sie dichter an eine warme, atmende Gestalt. Ihre eigenen Hände bewegten sich wild und umklammerten leidenschaftlich eine weiche Schlankheit. Mund verschmolz mit Mund und Schenkel mit Schenkel. Zorayas überließ sich einer endgültigen Wahrheit unvergleichlicher Ekstase, die sie in ihrem Feuer auflöste …
    Die Sklaven im Garten wandten sich nach dem unheimlichen Glanz am Himmel um. Eine rosige Sonne war in dem oberen Raum des Kupferturms entstanden. Sie schwoll an und wurde heller, verwandelte sich in unerträgliches Weiß, das den Augen aller wehtat, die es sahen. Dann folgte eine überwältigende Explosion.
    Als der Donner und das schreckliche Licht abgeklungen waren, fanden diejenigen, die zum Kupferturm krochen, nur einen Klumpen aus verkohltem Metall. Sonst war nichts übriggeblieben. Kein Ziegel, kein Amulett, nicht einmal ein Überbleibsel von Glas, von Knochen oder vom Haar einer Frau.
    *
    Mirrasch kam zu dem Palast, in dem früher die Königin von Zojad regiert hatte, die auf so geheimnisvolle Weise vom Erdboden verschwunden war. Einige sagten, sie sei von den Drin weggebracht worden, andere, sie habe ihrer Bosheit entsagt, um eine wandernde heilige Frau zu werden.
    Es gab Zank und Streit in der Stadt und im Palast. Die Könige vieler Länder waren wieder auf dem Anmarsch, begierig, das Joch zu zerbrechen, unter dem Zorayas sie gehalten hatte. Und weitere Unruhe entstand durch die Tatsache, daß man in der Nacht einen auf grausame Weise umgekommenen Herzog fand, der sich einen der großen Diamanten angeeignet hatte, die Jurims Geschenk an Zorayas gewesen waren.
    Als die Minister an den Stufen des großen Thrones zankten, wo sie einst aus Furcht vor der Frau, die dort saß, ihren bloßen Atem angehalten hatten, betrat ein dunkler, streng aussehender Mann den Saal. Wie er an den Wachen vorbeigekommen war, wußte niemand, aber die Disziplin war schlaff, und die Soldaten desertierten bataillonsweise.
    »Ich bin Mirrasch«, sagte der Fremde. »Ich höre, es ist bereits jemand an dem Diamantenfluch gestorben. Ihr werdet noch mehr Tote haben, wenn ihr nicht auf mich hört.«
    Und er erinnerte sie an den Fluch, der auf den Diamanten ruhte, daß nur diejenigen sich gefahrlos der Diamanten erfreuen könnten, denen sie ehrlich geschenkt wurden.
    »Mein Bruder gab die Diamanten Zorayas, aber sie ist von uns gegangen. Sollten einige von euch, denen sie nicht geschenkt wurden, versuchen, sie zu behalten, werden sie euch töten, einen nach dem anderen.«
    Wie immer gab es einen, der darüber spottete und den Fluch für lächerlich hielt. Er nahm sich eine Diamantenkette und hängte sie sich um den Hals. Mirrasch zuckte die Achseln, und schon bald entdeckte man den Mann mit blauem Gesicht und eindeutigen Zeichen, wie er verschieden war.
    Daraufhin beeilten sie sich, die Edelsteine ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Die Diamanten flossen in die Fässer und Kästen, die Mirrasch mitgebracht hatte. Fässer und Kästen wurden auf Wagen verladen, die man mit Maultieren und Vorreitern versah.
    Kurz darauf stieg Mirrasch auf sein neues Pferd, ein Geschenk des Haushofmeisters Zorayas’, auf dem er bestanden hatte, und ritt mit dem gesamten wiedererlangten Familienschatz der Wüste zu. Auf seinem Gesicht lag ein grimmiges Lächeln, und die sinkende Sonne beschien seinen Rücken.

Drittes Buch
Der Köder für die Welt
TEIL EINS
1
Honig-Süß
    Sie war so schön und so sanft, daß sie Honig-Süß genannt wurde – doch ihr Name war Bisuneh. Ihr Haar war so lang, daß es den Boden berührte; es hatte die bleiche, herrlich grünlich-gelbe Farbe der Schlüsselblumen. Sie war die Tochter eines armen Gelehrten, und sie lebten in einer Stadt am Meer. Honig-Süß sollte bald den hübschen Sohn eines anderen armen Gelehrten heiraten. Während die Väter sich in der Bibliothek über antiken Folianten ausgetauscht hatten, waren die Tochter und der Sohn in den schattigen Gärten zwischen den Rosen und unter den glänzenden Blättern des alten Feigenbaumes umhergewandert. Zuerst hatten sich ihre Hände berührt, dann ihre Lippen und jungen Leiber und schließlich ihre Herzen und Gemüter. Mannigfache Versprechen und Gelöbnisse und

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