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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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das Austauschen von Geschenken folgten. Da Hochzeiten teuer waren, fanden listige Kunstentehrungen statt: der eine Gelehrte komponierte ein Klagelied zum Tod eines hohen Herrn, das die Tränen in die Augen trieb und ihm eine ansehnliche Menge Silber einbrachte. Der andere Gelehrte widmete seine Übersetzung eines längst verstorbenen Dichters einem Prinzen in einem weißen Palast, was ihm Gold einbrachte. Die Frauen beider Gelehrter waren tot. Die beiden Alten sahen mit Wohlgefallen auf ihre Kinder, auf dies Eindringen von Jugend und Leidenschaft in ihre trockenen Häuser, die nur nach dem Staub der Bücher rochen.
    Es war noch ein Monat bis zur Hochzeit.
    Die schöne Bisuneh und zwei hübsche Freundinnen saßen im Zwielicht des Gartens unter dem alten Feigenbaum. Über ihnen wurden die Sterne heller, und weit unten kräuselte sich das Meer wie der Rücken eines dunkeln, langsam schwimmenden Krokodils.
    »Ich kenne einen Zauber«, sagte eine der hübschen Freundinnen. »Er wird dir verraten, wie viele Kinder du haben wirst.« Die andere Freundin fürchtete sich, sie hatte Angst vor Zaubern. »Oh, es ist ganz einfach. Ein paar Worte, eine Locke von Bisunehs Haar, ein Kieselstein, der geworfen wird.«
    Die Freundin sträubte sich immer noch, aber Bisuneh war neugierig. Sie wünschte sich, so erklärte sie, drei große Söhne und drei schlanke Töchter. Nicht mehr und nicht weniger.
    So betrieben sie ihren Zauber unter den scheckigen Feigenblättern und den Sternen, die dazwischen zu sehen waren. Es war solch ein kleiner Zauber. Im allgemeinen würde niemand ihn bemerkt haben. Aber für einen Dämonen bedeutete der leiseste Anhauch von Zauberei einen Lockruf.
    Einer der Eschva, der auf der nächtlichen Erde nach Abenteuern aus war, befand sich ganz in der Nähe. Er roch den Zauber wie eine ihm wohlvertraute Blume. Die Eschva waren in der Hierarchie der Unterwelt die am wenigsten Unmittelbaren und waren am meisten dem Traum und der Schwärmerei zugetan, und dieser hier bildete keine Ausnahme.
    In seiner männlichen Gestalt kletterte er, in das Kräuseln der Nacht gekleidet, die Küstenstraße empor, dann schwebte er durch die Luft. Er erreichte die Gartenmauer und spähte durch einen Spalt, den ein Vogel kaum hätte finden können.
    Er erblickte zwei hübsche Mädchen und eines, das strahlte.
    Ein Kieselstein fiel klirrend auf das Steinpflaster.
    »Merkwürdig«, sagte das erste hübsche Mädchen, »es gibt überhaupt keine Kinder hier. Und doch, warte – ja doch. Ein Kind. Eine Tochter!«
    »Nur eins«, jammerte das andere hübsche Mädchen. »Kann es heißen, daß Bisuneh sterben wird? Oder ihr Mann wird sterben?«
    Das erste Mädchen versetzte ihr ärgerlich einen Klaps.
    »Sei still, Närrin! Es bedeutet, daß der Zauber nicht gewirkt hat. Was soll dies Gerede vom Tod?«
    Aber Bisuneh schüttelte ernst den Kopf. »Ich fürchte mich nicht. Es ist nur ein albernes Spiel. Vor drei Tagen suchte ich die Wahrsagerin auf, die in der Straße der Seidenweber wohnt. Sie verkündete mir, daß weder ich noch mein Gemahl sterben werden, bevor wir sehr alt sind, außer wenn die Sonne im Osten unterginge, was unzweifelhaft bedeutet, daß uns nichts zustoßen kann. Denn wer sollte annehmen, daß die Sonne das jemals tun würde?«
    Darauf lachten die beiden Freundinnen, küßten Bisuneh und schmückten ihr Haar mit weißen Blumen. Jemand anderes lachte auch leise hinter der Mauer. Aber niemand war da, nur eine weiche, schwarze Katze rannte die Küstenstraße hinunter mit einem silbrigen Blitzen in den Augen.
    *
    Der Eschva betrat einen Raum aus schwarzer Jade, warf sich dort vor einem Schatten nieder, küßte seine Füße, und der Kuß erblühte im Schatten wie eine violette Flamme.
    Der Eschva erhob seine glitzernden Augen. Asrharn las darin folgendes: Ein Spaziergang im Erdentraum, der Welt der Menschen, und dort die Gestalt eines Mädchens. Ihre Haut glich dem weißen Herz eines Apfels, ihr Haar war wie eine Fontäne aus Schlüsselblumen.
    Asrharn streichelte die Stirn und den Nacken des Eschvas. Er selbst war eine lange Zeit nicht auf der Erde gewesen, viele Monate, vielleicht ein Jahrhundert der Sterblichen.
    »Wie sieht sie sonst noch aus?«
    Der Eschva seufzte bei der Berührung von Asrharns Fingern. Der Seufzer sagte: Wie eine weiße Motte im Dunkeln, eine nächtlich blühende Lilie. Wie Musik, die von der Spiegelung eines Schwans erzeugt wird, der die Saiten eines monderleuchteten Sees überfliegt.
    »Ich werde hingehen

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