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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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und sie anschauen«, sagte Asrharn.
    Der Eschva lächelte und schloß seine Augen.
    Asrharn eilte durch die drei Tore, schwarzes Feuer, blauer Stahl, kühler Achat. Als Adler flog er über die purpurfarbene Fläche des Nachthimmels; ein schmutziger Fleck von totem Karmesinrot kennzeichnete die Stelle, wo die Sonne schon lange untergegangen war. Er kam zu einer Stadt am Meer, zum kleinen Garten eines kleinen Hauses. Der schwarze Adler ließ sich auf dem Dach nieder. Er beobachtete mit seinen scharfen Vogelaugen mit schrägem Kopf, zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen.
    Ein alter Gelehrter trank Wein unter einem alten Feigenbaum. Er rief: »Bisuneh!« Ein Mädchen trat aus dem Haus. Der Gelehrte tätschelte ihre Hand, zeigte ihr eine Eintragung, die er in ein riesiges, altes Buch gemacht hatte; die Seite wurde von einer gepreßten Papierblume markiert. Aus einem Fenster fallendes Licht warf die Farbe grüner Limonen auf das blonde Haar des Mädchens. Der Adler sah bewegungslos zu, sein Schnabel glich einer gekrümmten Klinge.
    »Sieh, hier ist der Name deiner Mutter und der meine«, sagte der Gelehrte. »Und hier ist dein Name und der des Mannes, den du heiraten wirst und der mein Sohn werden soll.«
    Die Flügel des Adlers bewegten sich sacht. Sie erzeugten ein Geräusch, das nicht lauter war als die Brise in den Blättern des Feigenbaums.
    Kurz darauf gingen der alte Mann und das Mädchen hinein. Eine Lampe wurde in einem Fenster unter dem Dach angezündet und erlosch dann. Das Mädchen zog sich aus, war nur noch in ihr Haar gekleidet, legte sich in ihr schmales Bett und schlief.
    Ein wunderbarer Duft drang durch ihren Schlaf. Sie hörte ein weitentferntes Klopfen auf einen offenen Fensterladen, ein Geräusch wie raschelnde Blätter. Eine Stimme, so lieblich wie Samt, sang ihr ins Ohr. Bisuneh erwachte und fuhr auf. Sie schlich zum Fenster und blickte hinaus.
    Unten im Garten stand ein dunkler Mann; sie konnte ihn nicht erkennen. Eingehüllt in ihr Haar, im Schatten des Fensters stehend, erschien er ihr ebenfalls als Schatten. Nur seine Augen, in denen sich ein geheimnisvolles Licht spiegelte, glänzten.
    »Komm herunter, Bisuneh«, rief er leise. Seine Stimme glich keiner anderen Stimme, die sie je gehört hatte. Sie lehnte sich fast zu ihm hinaus, drehte sich beinahe um zur Tür, zur Treppe, um in den Garten zu gehen … aber ein kalter Tropfen fiel in ihr Gehirn, der sagte: Gib acht! »Komm, Bisuneh«, sagte der Fremde unten. »Ich liebe dich schon seit langem, ich bin viele Meilen weit gereist, um dich zu finden. Ein Blick aus deinen Augen ist alles, was ich begehre, vielleicht einen mitleidsvollen, keuschen Kuß von deinem Jungfernmund.«
    Das Fleisch Bisunehs sprach auf diese Stimme an wie eine Harfe auf den Anschlag des Musikers ansprechen würde; ihre Nerven und Instinkte trieben sie zur Tür oder dazu, vom Fenster hinab in die Arme des Fremden zu springen. Aber sie tat es nicht.
    »Du mußt ein böser Geist sein, daß du mich auf diese Weise rufst«, sagte sie zu ihm. Sie schlug die Fensterläden zu und verriegelte sie. Sie öffnete ein kleines Kästchen und holte eine Korallenkette heraus, die ihr Geliebter ihr geschenkt hatte, und streichelte und küßte sie und benutzte sie als Amulett gegen jegliches Böse, mit dem die Nacht sie bedrohen könnte. Bald schon spürte sie mit Erleichterung, wie die Spannung in der Luft abnahm. Der Schlummer übermannte sie. Sie sank in Schlaf mit der Korallenkette in der Hand, und am Morgen glaubte sie, ihre Furcht sei ein Traum gewesen.
    *
    Es amüsierte Asrharn, daß dieses überraschend sittsame Mädchen ihm die Stirn bot. Beim ersten Mal amüsierte es ihn. Ihre Willensstärke, ihre närrische, empfindliche Weigerung, an ihn zu glauben, entzückte ihn. Beim ersten Mal war er davon entzückt.
    Er kehrte in der Abenddämmerung des nächsten Tages zurück. Im Garten waren Gäste zu einem Fest versammelt. Später gingen sie, und das Mädchen stand allein, mit einer Korallenkette um den Hals, und starrte auf die See hinaus.
    Bisuneh, die den Duft der lilafarbenen Rosen roch und vor sich hingrübelte, sah plötzlich eine Frau auf der Küstenstraße stehen. Sie schien aus dem Nichts gekommen zu sein, diese Frau, doch nachdem sie deutlich zu sehen war, erschien sie lebendiger und wirklicher als alles andere. Bisuneh konnte ihre Augen nicht von der Frau abwenden. Sie war eindrucksvoll, herrisch, ihr Haar war blauschwarz, und ihre Augen glänzten. Sie zeigte keine

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