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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Bescheidenheit, weder Scheu noch Zurückhaltung. Sie kam geradewegs zur Gartenmauer und starrte mit ihrem fremdartigen, hypnotischen Blick auf Bisuneh. Sie sagte: »Laß mich dir weissagen, kleine Braut.«
    Die Stimme der Frau war tief und wohlklingend. Sie langte über die Mauer und nahm Bisunehs Hand, und bei ihrer Berührung fing Bisunehs Herz wie wild zu schlagen an, und sie wußte nicht, warum.
    »Ich höre«, sagte die Frau, »du fürchtest die Männer. Das ist ein Unglück, da du ja vermählt werden sollst.«
    »Ich fürchte keinen Mann«, stammelte das Mädchen.
    »Einen hast du gefürchtet, letzte Nacht«, sagte die Frau.
    Das Mädchen wurde bleich, als es sich erinnerte.
    »Es war ein Traum.«
    »War es das wirklich? Komm, warum fürchtetest du ihn? Er wollte dir nichts Übles.«
    Das Mädchen fröstelte. Die dunkle Frau beugte sich über die Mauer und küßte es leicht. Es glich keinem Kuß, den das scheue Mädchen je gekannt hatte. Die Küsse ihres Geliebten, der heiße Hunger der Jugend, hatten sie nicht so berührt wie dieses flüchtige Streifen der Lippen. Doch bei dem Kuß spürte sie die wieder wachgerufene Bestürzung der vorigen Nacht: ihre Sinne zogen sie in eine Richtung, ihre Vernunft in eine andere. Sie riß sich von ihrer Hand, ihrem Mund los.
    »Wer bist du?« fragte sie, während sie irgendwo tief in ihrem Innern die Antwort wußte und sich weigerte, ihr eigenes Wissen anzuerkennen.
    »Eine Leserin des Schicksals«, sagte die Frau. Ihr Gesicht hatte sich verändert, war zurückhaltend und grausam geworden. »Du bist störrisch, und Halsstarrigkeit ruft den Zorn der Götter hervor. Doch dir wurde ein beschauliches Alter beschieden, nicht wahr? Außer wenn die Sonne im Osten untergeht.«
    Die Frau drehte sich um und ging davon, aber ein starker Wirbel von Meereswind kam herauf, der ihren Umhang aufbauschte, und plötzlich schien sie sich aufzulösen.
    Das Mädchen rannte ins Haus und nahm ein Amulett aus einer Schachtel, das ein heiliger Mann ihrer Mutter gegeben hatte. Sie hängte es sich um den Hals und betete darum, daß die Dämonen aufhören möchten, ihr nachzustellen.
    Die Frau war Asrharn gewesen. Da er war, was er war, konnte er jegliche Form annehmen. Das Mädchen hatte ihn nun zweimal in zwei Verkleidungen abgewiesen. Sterbliche wiesen Asrharn nicht ab. Seine Stimme, seine Augen, seine Berührung erzeugten eine Alchimie, die ihre Nerven durchschauerte, sie betörte, ihren Willen ausschaltete. Aber Bisuneh wehrte sich, und ihr Abwehrkampf hatte aufgehört, ihn zu ergötzen. Ihre Tugend war zu einer seidenen Hülle geworden, die es zu zerreißen galt, ihre Schönheit ein Becher, den er leeren wollte.
    Es gab eine letzte List. Sie gefiel ihm. Er hatte im Garten unter den Gästen ihren Verlobten gesehen. Nun nahm Asrharn die Gestalt dieses Geliebten an und klopfte eine Stunde nach Mitternacht an die Läden ihres Fensters. Er trug die äußere Form wie einen Umhang.
    Sie kroch voll Furcht zum Fenster. Flüsternd fragte sie, wer es sei. Sie hörte eine Stimme, die sie kannte. Sie öffnete die Läden. Er nahm sie in die Arme. Die Freude an seiner Stärke befeuerte sie, wie sogar ihre Liebe zu ihm es vorher nicht vermocht hatte.
    »Ich kann nicht länger enthaltsam bleiben«, sagte er. »Willst du mich warten lassen, bis wir getraut sind?«
    »Nein, ich will dich nicht warten lassen, wenn es das ist, was du möchtest.«
    In dem Raum brannte kein Licht, das Zimmer war dunkel. Sie erkannte seine Arme, seinen Körper, seinen Mund und erkannte sie doch nicht. Es war alles neu, ein Wieder- und doch Neuentdecken. Und es verwirrte sie, daß er gekommen war, die Täuschung, die kühle Heftigkeit, als ob er es geplant hätte.
    Der Mond ging vom Meer her auf. Nach und nach versilberte er die Rosenblüten im Garten, den Stamm des Feigenbaums, die Dachziegel des Hauses. Das silberne Auge starrte in die offenen Fensterläden. Bisuneh, die begonnen hatte, in den Fluten der Begierde zu ertrinken, als ihr Geliebter sie aufs Bett herabzog, erhaschte plötzlich, unerwartet, das schwarze Glimmern eines Augenpaars …
    Nein, das konnte nicht sein. Es waren die Augen ihres Verlobten, die durch die offen zutage tretenden menschlichen Gelüste verschleiert waren. Und doch, andererseits, hinter den Augen, unter ihnen auftauchend, wie ein schwarzer Hai aus den herrlichen Wassern der See auftaucht, sah ein zweites Augenpaar auf sie herab, unüberwindlich und riesengroß.
    Bisuneh rang sich frei aus der Flut, die

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