Herr der zwei Welten
Kratzer, von denen einige bluteten und andere eine ernst zu nehmende Entzündung versprachen. Die Luft war nicht nur sehr warm, sondern auch schwül und drückend. Das Atmen fiel schwer. Der Weg, den sie auf der Suche nach der Dsaidsa-Blüte eingeschlagen hatten, war nicht einmal halb so strapaziös wie dieser hier. Wenn die Gallert-Schlange TsiTsi wirklich in diese Gegend gebracht hatte, würde es an ein Wunder grenzen, wenn sie noch lebte! Ab und an riefen sie noch ihren Namen, doch immer längere Zeit stolperten sie nur vorwärts. Ihre Umgebung blieb, mit Ausnahme des Wimmerns der Pflanzen, belastend still.
Der Tag ging so langsam zur Neige und sie mussten sich wieder einen Platz suchen, an dem sie übernachten konnten. Eng an die Halme und Stämme der verschiedenen Pflanzen gelehnt verbrachten sie nun die zweite Nacht ohne TsiTsi. Im Gegensatz zu vergangenen Nächten deckte sie diesmal ein richtiges Blätterdach zu. Der nächste Tag allerdings unterschied sich in Nichts von dem Vergangenen. Diesmal stießen sie allerdings auf ein wirklich weites, freies Feld, was auf ihrem gewählten Weg doch eher zu den Seltenheiten gehörte. Es handelte sich um ein herrliches gelbgrünes Feld, das übersät war, von kleinen rotblühenden Pflanzen. Wenn nicht die Sorge um TsiTsi gewesen wäre, so hätte Julie diesen Anblick bestimmt genossen. Es erinnerte sie an die vielen Mohnfelder, die sie aus ihrer Heimat kannte. Doch dies hier war kein Mohn. Die Pflanzen waren viel kleiner und zierlicher. Trotzdem erzeugte ihr Anblick einen Schauerregen auf Julies Haut. Ein kurzer Blick zu Kai und Bernhard sagte ihr, dass auch sie sich an ihre Heimat erinnert fühlten. Plötzlich erblickte sie etwas Buntes, das durch die Lüfte zog. Insekten, die aussahen wie Schmetterlinge. Ihre Flügel leuchteten in allen erdenklichen Regenbogenfarben. Immer mehr Tiere formten sich allmählich zu einem dreieckigen Schwarm. Der Schwarm kreiste genau über ihnen. Julies Gefühl sagte ihr, dass die Tiere sie beobachteten. Sie zeigte sich im Stillen selbst einen Vogel, aber als sie sich konzentrierte, vernahm sie ein leises Wispern und raunen. Unvorstellbar!
„Sie unterhalten sich!“ rutschte es Julie raus.
Dervit nickte nur, so als sei dies das natürlichste auf der Welt. Es war einfach ein seltsames Land, in das sie da geraten waren. Dennoch waren Schmetterlinge, die sich unterhielten, wohl kaum wunderlicher, als Pflanzen die weinten. Julie wollte nicht, dass Dervit sich jetzt auf ihre Fragen, die sie nun wirklich hatte, konzentrieren musste, deshalb verkniff sie sich lieber alles, was ihr auf der Zunge lag. TsiTsi war viel wichtiger; Fragen konnte sie auch später noch stellen!
Als der Schwarm sich verzogen hatte, setzte die Gruppe ihren Weg fort. Obwohl sie alle nach den geringsten Anzeichen Ausschau hielten, brachte auch dieser Tag nichts, das darauf schließen ließ, dass TsiTsi wirklich noch lebte. Was folgte, war eine dritte Nacht und ein vierter Tag. Sie hatten die Hoffnung bereits aufgegeben, und wenn Julie ehrlich mit sich selbst war, dann musste sie zugeben, dass sie die Suche nach TsiTsi nur noch Dervit zuliebe fortsetzten. Dervits Kopf schien immer tiefer zu hängen, kaum noch, dass er ein Wort an seine Begleiter richtete. Auch er hatte keine Hoffnung mehr, aber solange er diese Suche nicht von selbst aufgab, würden sie ihn begleiten. Da war sich Julie sicher! Karon, der ebenfalls still geworden war, schien nicht einmal mehr Tränen zu haben, denn es war lange her, dass Julie den Kleinen hatte weinen gehört. Aber das würde sicher wieder kommen. Spätestens dann, wenn Dervit die Suche abbrach. Vermutlich machte Dervit genau deshalb noch weiter, vermutete Julie. Die Kinder, Karon und Thela, würden das Einzige sein, was ihm noch bleiben würde, wenn sie ohne seine Frau in das Blaue Land zurückkehrten.
Er und die beiden Kinder taten Julie so leid, aber ihre eigene seelische und psychische Verfassung ließ kaum noch etwas anderes zu, als sich nur stur weiter zu bewegen. Sie war überhaupt nicht mehr in der Lage, die Gegend nach Hinweisen auf TsiTsi abzusuchen. Nach den Geräuschen, die von den anderen noch an ihr Ohr drangen, erging es ihnen auch nicht mehr anders. In ihrem Kopf war kaum noch Platz für einen anderen Gedanken als den: Irgendwo ankommen. Trinken! Schlafen! Deshalb fuhr sie auch so erschrocken zusammen, als plötzlich Karmai vor ihnen stand. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht! Niemand hatte ihn kommen sehen, obwohl er
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