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Herr der zwei Welten

Herr der zwei Welten

Titel: Herr der zwei Welten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Meyer
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was er für Julie fühlte, verfluchte er sich und seine Art. Er hasste den Blutdurst in ihm, der niemals schweigen wollte und der sein einziger Herr war. Dieser Herr verbot es ihm, in ihrer Nähe zu sein. Eugeñio dachte darüber nach. Er hatte ihr geschrieben, hatte all das, wozu er zu feige gewesen war, es ihr zu sagen, in diesen Brief getan. Er hatte ihr darin seine ganze Geschichte erzählt. Er hatte keine Grausamkeit verschwiegen, die Sterbliche erwarteten, die sich in Gesellschaft von Vampiren aufhielten. Erst Wochen später hatte er den Mut aufgebracht, den Brief auch aufzugeben. Doch er wollte nicht, dass sie ihre Liebe für einen Mann aufbehielt, dessen Arme sie niemals würden umfangen können. Er wollte, dass sie glücklich würde, mit einem Mann, der ihr all das geben konnte, was sie verdiente. Auch wenn es in seinem Herzen ein Gefühl von glühenden Kohlen hinterließ, wollte er, dass sie an der Seite eines anderen, eines sterblichen Mannes, lebte und sich nicht in Träumen verlor, die niemals wahr werden konnten. So hatte er ihr geschrieben, hatte all das gebeichtet, was ihn ausmachte, hatte ihr nichts verheimlicht. Damit hatte er sich selber in große Gefahr gebracht. Aber es war ihm egal, ob sie ihm auf die Schliche kamen. Vielleicht, so überlegte er, hatte er damit sogar einen Anstoß geben wollen, dass die Menschen wieder die Augen öffneten und die Gefahr erkannten, in der sie ständig schwebten. Hatte er vielleicht sogar darauf gehofft, dass sie ihn verraten würde und seiner grauenhaften Existenz dann endlich ein Ende setzen würde?
    Doch natürlich hatte sie seinen Worten nicht so recht geglaubt. Wie auch? Sie war ein Kind des 21. Jahrhunderts und nichts, was sie nicht in ihren Schulbüchern gelesen hatte, nichts, was sie nicht analysieren, oder begreifen konnte bekam auch nur die Möglichkeit Beachtung zu finden. Eugeñio lächelte wehmütig. Vor zweihundert Jahren hätte die Sache noch ganz anders ausgesehen! Damals wäre es kein Problem gewesen, sie davon zu überzeugen, dass er ein Vampir ist. Damals wussten die Menschen noch von der Existenz des Bösen. Aber heute? Heutzutage wurden Menschen früherer Epochen als abergläubische Narren abgetan. Sie hielten sich für so schlau, dass es einem schon wehtun konnte!
    Statt zu sehen, was mitten unter ihnen geschah, hielten sie lieber Ausschau nach UFOs. Der Vampir lachte bitter in sich hinein. Ja, er hatte wirklich gehofft, sie würde ihn verraten, würde die Menschen von seiner Existenz überzeugen. Aber sie hatte es nicht getan. Selbst dann nicht, als sie begann, seinen Worten Glauben zu schenken. Die Beweise für seine Worte lieferten Funk und Fernsehen zu Genüge. Zwar wurden all die Untaten, die er und seinesgleichen begingen, zumeist schwachsinnigen Tätern zugeschoben, aber Julie bekam langsam ein offenes Gehör dafür. Trotzdem, obwohl sie schließlich die bittere Wahrheit akzeptiert hatte, hatte sie nicht aufgehört, ihn zu lieben. Er konnte es nicht verstehen. Wie konnte sie solch ein Monster lieben? Aber auch ihre Liebe war so ungewöhnlich wie die Seine. Und so musste er es sein, der den Schlussstrich zog. Wieder legte sich ein hartes Lächeln um seine Lippen. Wie oft hatte er sie weinen gehört?! Wusste sie denn nicht, wie weh sie ihm damit tat?
    Doch nur sein Fortbleiben garantierte ihr Leben. Er konnte weder ihr Leiden noch das Seine lindern.
    Doch heute Nacht war etwas geschehen. Sie brauchte ihn. Den Vampir. Den toten Gott der Nacht.
    Sie brauchte ihn jetzt! Doch wie nur sollte er ihr helfen? Was war geschehen? Wo war sie? Eugeñio war fest entschlossen, genau das herauszufinden. Aber zuerst musste er jagen. Er brauchte Blut, um stark zu sein. Er musste einem Menschen das Leben nehmen, oder er würde Julie nichts als eine weitere, vermutlich noch viel tödlichere Gefahr bringen. Er durfte auf keinen Fall hungrig sein, wenn er ihr gegenübertrat. Das wäre ihr sicherer Tod!
    Katzengleich schwang er sich von seinem Lager. Die Nacht rief nach einem ihrer Kinder. Sie rief seinen Namen! Seine Gedanken hatten sich von Julie gelöst. Sie waren nur noch auf eines ausgerichtet: frisches Blut! Er konnte sich diesem, dem stärksten aller Verlangen, nicht länger verschließen. In seinen Augen blitzte es kalt. Er brauchte die Jagd. In den lärmenden, nächtlichen Straßen von Madrid war es für einen Dämon wie ihn nicht schwierig, ein geeignetes Opfer zu finden. Er spürte schon den Geschmack seiner Beute auf der Zunge. In einer stillen

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