Herr des Chaos
den Palast selbst. Sie war ein wenig erleichtert, als sie Diener in rotweißer Livree durch die von Wandteppichen gesäumten Gänge eilen sah, die die ebenfalls umhergehenden Aiel wachsam beäugten, aber nicht anders, als sie einen merkwürdigen Hund beäugen würden. Sie hatte schon geglaubt, sie würde in dem Palast nur Aiel und Rand in ihrer Mitte vorfinden, der vielleicht Umhang und Hose in allen Schattierungen von Braun und Grau und Grün trug, und sie ansah, ohne zu blinzeln.
Enaila blieb vor hohen, breiten Türen stehen, die mit Löwenschnitzereien versehen und geöffnet waren, und machte den wachhabenden Aiel schnell ein Zeichen. Es waren alles Frauen. Eine flachshaarige Frau, die erheblich größer war als die meisten Männer, vollführte ebenfalls Handzeichen. »Wartet hier«, befahl Enaila und ging hinein.
Min tat einen Schritt hinter ihr her, aber die flachshaarige Frau hielt ihr wie zufällig einen Speer in den Weg. Oder vielleicht auch nicht zufällig, aber das kümmerte Min nicht. Sie konnte Rand sehen.
Er saß in einem roten, üppig mit Gold bestickten Umhang auf einem großen goldverzierten Thron, der vollkommen aus Drachen gestaltet zu sein schien, und hielt eine mit grünen und weißen Quasten geschmückte Speerspitze in der Hand. Ein weiterer Thron stand auf einem hohen Podest hinter ihm, ebenfalls goldverziert, aber mit einem in weißen Edelsteinen auf rotem Grund gestalteten Löwen. Der Löwenthron, wie die Gerüchte besagten. In diesem Moment hätte er ihretwegen auch einen Schemel benutzen können. Er wirkte müde. Er war so eindrucksvoll, daß ihr Herz schmerzte. Bilder tanzten beständig um ihn. Bei Aes Sedai und Behütern versuchte sie dieser Flut zu entgehen. Sie erkannte bei ihnen nicht häufiger, was sie bedeuteten, als bei irgend jemand anderem, aber sie waren ständig da. Bei Rand mußte sie sich zwingen, sie zu betrachten, weil sie ihm sonst ständig ins Gesicht gestarrt hätte. Eines dieser Bilder hatte sie jedes Mal vor Augen, wenn sie ihn gesehen hatte. Unzählige Tausende funkelnder Lichter, wie Sterne oder Glühwürmchen, rauschten in eine große Schwärze und versuchten sie auszufüllen, rauschten hinein und wurden verschluckt. Es schien jetzt mehr Lichter zu geben, als sie jemals zuvor gesehen hatte, aber die Dunkelheit verschluckte sie auch in größerer Anzahl. Und da war noch etwas, etwas Neues, eine gelbe und braune und purpurfarbene Aura, die ihr Magenkrämpfe verursachte.
Sie versuchte, die ihm gegenüberstehenden Adligen zu erkennen - sicherlich waren sie mit all diesen edel bestickten Umhängen und üppigen Seidengewändern Adlige -, aber es war nichts zu erkennen. So war es die meiste Zeit bei den meisten Menschen, und wenn sie etwas erkannte, hatte sie nur allzu häufig keine Ahnung, was es bedeutete. Dennoch verengte sie ihre Augen und strengte sich an. Wenn sie nur ein Bild erkennen würde, eine Aura, könnte es ihm vielleicht helfen. Den Geschichten nach, die sie gehört hatte, seit sie Andor betreten hatte, konnte er alle Hilfe gebrauchen, die er finden konnte.
Schließlich gab sie es mit einem tiefen Seufzen auf. Zu blinzeln und sich anzustrengen, nützte nichts, es sei denn, es gab von vornherein etwas zu sehen.
Plötzlich bemerkte sie, daß sich die Adligen zurückzogen. Rand war aufgestanden, und Enaila winkte ihr zu und bedeutete ihr einzutreten. Rand lächelte. Min dachte, das Herz würde ihr aus der Brust springen. So fühlte es sich also für all jene Frauen an, über die sie gelacht hatte, die sich zu Füßen eines Mannes warfen. Nein. Sie war kein närrisches Mädchen. Sie war älter als er. Sie hatte ihren ersten Kuß schon bekommen, als er noch glaubte, daß das größte Vergnügen auf der Welt darin bestand, aus der Aufgabe des Schafehütens auszubrechen. Sie... Licht, bitte, laß meine Knie nicht nachgeben.
Rand legte das Drachenszepter achtlos auf den Platz, auf dem er gesessen hatte, sprang mit einem Satz vom Podest und eilte die Große Halle entlang. Sobald er Min erreicht hatte, ergriff er sie unter den Armen und schwang sie im Kreis durch die Luft, bevor Dyelin und die anderen gegangen waren. Einige der Adligen starrten ihn an, aber es kümmerte ihn nicht. »Licht, Min, es tut gut, dich zu sehen«, sagte er lachend. Das war erheblich besser als Dyelins oder Elloriens versteinerte Gesichter. Aber wenn Aemlyn und Arathelle und Pelivar und Luan und alle anderen jeden Tag ihrer Freude darüber Ausdruck verliehen hätten, daß sich Elayne auf
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