Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
aber sie verstehen, dass sich Diplomaten in Ondrien vor Magie schützen müssen.«
»Dann ist die Aufregung vielleicht doch nur wegen Schattenbaron Lukol.«
»Was weißt du von Lukol?«, rief Nalaji.
Ungrann runzelte die Stirn.
Sie schlug mit der flachen Hand auf den Kettenpanzer vor seiner Brust. »Was ist mit Lukol?« Die eigene Stimme hörte sich für die Greisin an wie die eines Mädchens.
»Seine Gardisten wurden in Gewahrsam genommen. Er scheint in Ungnade gefallen zu sein.«
Nalaji merkte, wie ihr der Verstand entglitt. Trotz der Gefahr der Entdeckung schloss sie die Augen und betete den Vers der Silbernen Ruhe. Die Spannung in ihren Armen ließ ein wenig nach.
»Bist du wirklich sicher, dass Narron tot ist?«
»Ich habe ihn nicht gesehen, aber nach der Beschreibung meiner Kameraden … Und da Lukol etwas damit zu tun zu haben scheint …«
Was hätte Narron gewollt? Was von ihr erwartet? Eine Bestattung, wie sie der Mondmutter gefiel?
Es zerriss Nalajis Herz, dass sie ihm diese letzte Ehre nicht würde geben können. Dazu hätte sie nicht nur in den Besitz der Leiche kommen, sie hätte sie auch aus Orgait herausbringen müssen. Und weiter, viel weiter bis in ein Land, das den Göttern die Treue hielt. In dem sein Grab nicht geschändet werden würde. Wo er keine Speise für Ghoule wäre.
Aber das überstieg ihre Möglichkeiten.
Etwas in ihr schrie, an der Hoffnung festzuhalten. Doch es gab nicht viele Einarmige im Palast, und wenn es sich bei dem Toten nicht um Narron handelte, wenn Narron noch lebte, wo blieb er dann so lange? Die Behandlung von Lukols Gardisten war sicher auch kein Zufall.
Nalajis Hand zitterte, als sie sie von den Lippen löste, gegen die sie die geballte Faust gepresst hatte. Ihre Stimme jedoch war so ruhig, als gehörte sie einer Fremden. »Du und ich, wir müssen fort von hier. Sofort.«
»Wohin wollt Ihr Euch wenden?«
»Ilyjia.«
»Dahin wären wir mehrere Monate unterwegs!«
Sie hob die Öllampe, um sein Gesicht anzuleuchten, und sah ihm in die Augen. »Wenn wir hierbleiben, erwartet uns ein schneller Tod. Nur in Ilyjia sind wir sicher.«
»Aber Ihr sagtet doch, dass sie vermutlich nichts aus dem Verstand Eures Gemahls ziehen konnten.«
»Sie müssen vorher schon Verdacht geschöpft haben. Wahrscheinlich wissen sie noch nicht alles, und zunächst werden sie sich um die Verräter in den Reihen der Osadroi kümmern, aber bald werden sie das Umfeld untersuchen. Wir müssen fort.«
»Wenn ich mich nicht bald bei meiner Einheit melde, wird man misstrauisch werden.«
»Sie sind schon misstrauisch.« Nalaji legte eine Hand auf die harten Eisenringe an Ungranns Schulter. »Es ist deine Entscheidung. Aber ich glaube, dass wir einen Verräter in unserem Zirkel haben. Er wird von deiner Verehrung für die Mondmutter wissen. Wir sind nicht mehr sicher. Auch du nicht.«
»Seit wann hegt Ihr diesen Verdacht?«
Einen Moment zögerte sie, dann ging sie zu dem Vorhang und zog ihn beiseite. »Du hast die Frau nicht erkannt, für deren Heilung wir bei der letzten Zusammenkunft zu Vejata flehten?« Sie beleuchtete Kirettas Körper. Noch immer krampften die Glieder der Kranken. »Seit der Fayé mir Brens Geliebte brachte, ist mir klar, dass ein Verräter unter uns ist. Sie wissen von meinen Heilkünsten.«
Ungrann war ihr gefolgt. Jetzt machte er einen Schritt zurück und griff an sein Schwert.
»Wenn du zurückbleiben willst, so ist das deine Entscheidung. Aber ich glaube, dass es hier gefährlicher für dich sein wird, als wenn du dich mir anschließt. Und ich könnte dich gut gebrauchen. Solange alle noch durcheinander sind, kannst du uns an den Wachen vorbeibringen. Und vielleicht auch ein Packtier besorgen.«
»Was wollt Ihr denn mitnehmen?«
Nalaji sah Kiretta an. »Nicht was. Wen.«
Nicht G ERG auf S EINEM Schädelthron war Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, sondern Lisanne. So war es immer, selbst unter den Schattenherren. Manche betrachteten sie unverhohlen, andere aus den Augenwinkeln. Ihr gerader Wuchs, die helle Haut, die blauen Augen mit dem grauen Hauch darin, das hüftlange, schwarze Haar, bei dem keine Locke die Ordnung brach, die schimmernden Krallen – alles wirkte so, als sei sie das Ideal, nach dem alle Osadroi gestaltet wurden, das aber keiner je erreichte. Dazu kam die Art, wie sie sich bewegte. Den schwebenden Gang teilte sie mit einigen anderen Unsterblichen, aber nur bei ihr wirkte es so, als erfülle sie einen Plan, die Harmonie des
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