Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
hinaus dorthin, wo er sich nicht auskennt. Dort ist es immer gefährlich. Das Meer hält viele Wunder bereit, aber nichts für die Feiglinge.«
»Dann sorgst du dich, weil du das Steuerrad nicht in der Hand hast? Weil du nur zusehen kannst und anderen vertrauen musst?«
Sie zuckte die Schultern, wegen ihrer heutigen Kleidung eine deutlich sichtbare Geste. Sie trug eine blaue Weste mit ausladenden Polstern über einem hellblauen Hemd, dessen Ärmel sich bauschten, als seien sie geblähte Segel. »Auf einem Schiff muss man sich ständig auf andere verlassen.«
»Aber man kennt die Mannschaft. Hier kennst du nicht viele.«
Sie nickte zu Flutatems Myratis-Priester. »Jicke und ich haben uns schon gegenseitig unter den Tisch gesoffen.«
»Wenn ihm der Trunk hilft, die Gemeinschaft mit der Göttin der Wellen zu finden, bin ich die Letzte, die ihm den Rum verwehren will. Wenn die Geister wehen, werden wir jeden Beistand gebrauchen können.«
»Sagt das diesen Schnepfen, die sich die Haut bleich pudern, um jenen zu ähneln, die Ihr zu bekämpfen wünscht.«
Die Sitte, sich die Haut aufzuhellen, war so selbstverständlich für die Wohlhabenden und Mächtigen, dass Nalaji erst jetzt, als Kiretta sie darauf hinwies, wahrnahm, wie viele ihr folgten. »Nur eine leere Geste«, versuchte Nalaji sich selbst einzureden, aber ihr wurde unwohl, als sie sah, dass selbst der Terron-Priester dieser Gewohnheit folgte. Jeder versuchte, wie ein Osadro auszusehen, weil Schatten und Erfolg, Schatten und Macht so offensichtlich eins zu sein schienen. Vielleicht können wir das heute Nacht ändern.
Auch die Hausherrin hatte ihr Gesicht weiß geschminkt. Ihr Kleid bedeckte nur die rechte Brust, die linke strahlte bronzen, die Knospe gar in hellem Rot. Den Hals herunter und bis zur Brust flossen goldene und kupferne Farbtöne ineinander.
»Gildenmeisterin Nerate!«, rief Nalaji. »Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, Euch dafür zu danken, dass Ihr uns Eure Insel zur Verfügung stellt.«
Doch die Edle beachtete die Priesterin nicht. Sie starrte Kiretta an. »Ich hatte Euch nicht so bald zurückerwartet. Ihr wart auch nicht eingeladen.«
»Man sollte eben vorsichtig damit sein, wem man Zutritt zu seinem Haus gewährt. Manche lernen das früher, andere später.«
»Habt Ihr die Seiten gewechselt?«
»Ich stand schon immer nur auf einer Seite. Meiner eigenen.«
Nerate bebte, auch wenn der Grund dafür Nalaji unbekannt war. Kiretta hatte sich bereits so gut erholt, dass die andere Frau neben ihr schwächlich wirkte. »Wir sind doch nicht hier …«, setzte Nalaji an, aber Nerate unterbrach sie.
»Ohne Euren Haken habt Ihr wohl keinen Appetit mehr auf Süßgebäck, Seeräuberin?«
»Mir scheint, wir haben alle etwas eingebüßt.«
»Barea war kein ›Etwas‹!«, kreischte Nerate so laut, dass sich alle Blicke ihnen zuwandten. »Bis Ihr uns heimgesucht habt, war sie eine der fähigsten Gildenmeisterinnen, die diese Stadt jemals regiert haben!«
»Ihr habt ihr ja auch einen Ehrenplatz eingeräumt.« Mit ihrem Stumpf zeigte Kiretta auf ein Bild in der Mitte der Galerie. »Ist die Farbe schon trocken? Konnte der Künstler sie aus dem Gedächtnis so gut malen? Als ich sie das letzte Mal sah, war sie deutlich gealtert. Sie hatte Blut auf den Wangen, glaube ich.«
»Das Werk Eurer Meister!«, quetschte Nerate heraus.
»Ich glaube, ich erwähnte schon, dass ich keines Meisters Magd bin.«
»Nicht?« Nerate lachte. »Dann seid Ihr diesmal aus freien Stücken hier? Seid Ihr keine Gefangene? Dass Ihr keine Eisen tragt, heißt nicht, dass Ihr frei seid.«
Das Weinglas knirschte in Kirettas Hand. »Niemand schlägt mich in Eisen«, sagte sie bedrohlich leise.
»Natürlich nicht. Das wäre Verschwendung, wo Ihr doch so viel leichter zu binden seid, nicht wahr? Das Lächeln eines Schattenherrn, der betörende Sermon einer Priesterin … Was ist es, das Euch den Verstand raubt und Euch Eure Freunde verraten lässt?«
»Ich habe niemanden verraten.«
»Ach, dann weiß dieser Schattenfürst Velon, wo Ihr gerade seid? Und dieser Osadro, der wie ein Jüngling aussieht … Gadior, wenn ich mich nicht irre? Er ist sicher sehr erfreut darüber, dass Ihr uns Gesellschaft leistet. Und wie heißt noch dieser General, der mit dem Morgenstern …«
Kirettas Schlag kam so schnell, dass er auch Nalaji überraschte. Das Weinglas splitterte, als die Faust traf. Die Piratin war gewohnt, sich mit handfesten Argumenten durchzusetzen. Nerate dagegen hatte
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