Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
immerhin um einen Serienmörder. Wenn sie ihre Stärken richtig ausspielte und eine wasserdichte Reportage ablieferte, konnte sie von ihrem Erfolg zehren, bis ihr letztes Stündlein geschlagen hatte und andere Journalisten in ihrem Nachruf ihre Reportage erwähnten.
Ihre sechzehnte (aber nicht letzte) Marlboro des Tages begleitete sie auf dem kurzen Weg vom Parkplatz in ihr Zimmer. Sie kam an einem Automaten vorbei, überlegte, eine Tüte Pork Rinds, frittierte Schweinekruste, zu kaufen, ging aber weiter. Schlimmer als in Texas festzusitzen war nur noch, in Texas fett zu werden. Es war nicht so, dass sie Vorurteile gegenüber dem gesamten Bundesstaat hatte. Austin zum Beispiel war eine wunderbar fortschrittliche Stadt, und sie hatte ein paar Freunde, die behaupteten, dass die Kunstszene in Houston grandios war. Doch die meisten Leute, die sie kennengelernt hatte, zumindest hier in Amarillo, waren von der Ray-Milton-Sorte gewesen: eine Bibel in der einen Hand und eine Knarre in der anderen. Ihr Leben – Himmel, ihre ganze Erscheinung (wenn sie sämtliche Piercings trug und die Tätowierungen unbedeckt ließ) – waren diametral entgegengesetzt zu allem, was den Menschen hier wichtig war. Das wusste sie. Für die war sie die Ausgeburt der Hölle. Schlimmer noch: Sie war Kalifornien . Natürlich dachte nicht jeder so, aber die große Mehrheit, und in Amerika hatte die Mehrheit eben das Sagen.
Egal.
Im Hotelzimmer weckte sie ihren Hello-Kitty-Laptop aus dem Schlummermodus, chattete eine Stunde lang mit ein paar Freunden und schrieb fünfhundert Worte für ihren Artikel. Ben Blackman, ihr Chef beim „Chronicle“ , wollte Seiten? Er würde sie bekommen.
Sie schrieb nichts, was die Task Force schlecht dastehen ließe. Sie war eine verantwortungsvolle Journalistin … und außerdem hatte sie den Informanten noch nicht lange genug. Trotzdem handelte es sich um eine Enthüllungsstory über die angesehenste Einheit des ganzen Landes. Es ging um spannende Menschen. Um Grabenkämpfe zwischen verschiedenen staatlichen Einrichtungen. Und um einen abscheulichen Verbrecher. Vergiss den Pulitzerpreis – das hier konnte ihre Eintrittskarte ins überregionale Fernsehen sein.
Lilly Toro nickte gegen ein Uhr morgens ein, noch immer in ihren schwarzen Stiefeln, Strumpfhosen und allem Drum und Dran.
Um 4:43 Uhr wachte sie auf. Sah sich verdattert um. Warum zum Teufel bin ich um diese Uhrzeit wach …
BAM! BAM! BAM!
Jemand war an der Tür.
BAM! BAM! BAM!
Er war ziemlich sauer.
Lilly trottete zum Türspion.
BAM! BAM! BAM! BAM! BAM!
„Ich komme ja.“
Sie spähte durch das Guckloch. Wer verflucht noch mal schlug um 4:43 Uhr gegen ihre Tür?
Sieh an! Special Agent Tom Piper.
Noch verdatterter nahm sie sich die Zeit, über ihr Haar zu streichen, dann öffnete sie die Tür.
„Special Agent Piper! Was für eine nicht besonders gelungene Überraschung.“
Er starrte sie volle dreißig Sekunden lang an. Dreißig Sekunden nichts als sein Blick. Er versuchte in ihre Seele zu schauen. Das konnte sie spüren. Sie fürchtete sich davor, was er entdecken könnte.
Nach dreißig Sekunden schien er zu einem Ergebnis gekommen zu sein. „Okay.“
Dann entdeckte sie Blut auf seinen Handflächen.
Was zum Henker …?
Er bemerkte, was sie bemerkt hatte. „Das ist das Blut von Darcy Parr. Er hat sie vor ein paar Stunden bei Walmart erschossen.“
Darcy Parr war tot? Heiliger Herr im Himmel. Moment mal – Walmart? Wo hatte sie etwas von Walmart gesehen … Ein roter Duftbaum …
„Das Kennzeichen von dem Typ, den Sie heute Nacht getroffen haben? Es ist auf den Namen Pablo Marx in Lubbock registriert. Pablo Marx …“
„Moment mal …“
„Pablo Marx wurde vor zehn Tagen als vermisst gemeldet.“
„Woher wissen Sie, dass ich …“
„Was glauben Sie wohl?“
Lilly hätte nicht überrascht sein sollen, doch sie war es. Natürlich hatten sie sie beobachtet. Sie wussten schließlich, dass es einen Informanten gab. Und natürlich wollten sie seine Identität herausfinden.
„Sein Name ist Ray Milton“, erklärte sie ihm. „Er ist Polizist beim Amarillo Police Department.“
„Miss Toro, bei allem Respekt, aber ich versichere Ihnen, dass der Mann weder Ray Milton heißt, noch jemals in seinem ganzen Leben bei der Polizei gearbeitet hat. Sie müssen jetzt mit mir kommen. Auf der Stelle.“
Lilly nickte und griff nach ihrem Mantel. In ihrem Kopf drehte sich alles (die späte Uhrzeit half da auch nicht gerade).
„Soll ich
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