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Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Titel: Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Corin
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einzige Grund, warum er nicht auf das Schloss schoss, war wohl, dass er befürchtete, die Kugel könne von dem Metall abprallen und ihn treffen. Dieses physikalische Gesetz verschaffte Esme zwei Minuten Zeit.
    Sie kletterte auf den Tisch und hämmerte gegen eine Deckenplatte. Das machten die Leute im Kino auch immer so. Rechteckige Platten aus billiger Pappe würden ihr Gewicht schon tragen. Nicht wahr?
    Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie zog sich hoch. Muskeln, die sie seit dem Sportunterricht in der Highschool nicht mehr benutzt hatte, brüllten sie an, damit aufzuhören, doch sie zog weiter. An guten Tagen wog sie 52 Kilo. Sie versuchte ruhig zu atmen und ignorierte die Schweißtropfen, die ihr über die Stirn in die Augen liefen. Zieh! Zieh!
    Links neben ihr zersplitterte der Türrahmen.
    Zieh!
    Sie schaffte es, ein Bein über die Holzplanke zu schwingen und dann den ganzen Körper. Sie glitt in den Zwischenraum, überlegte, die Platte hochzuziehen, um die Spur zu verwischen, entschied sich dann aber dagegen. Jetzt war es vor allem wichtig, schnell zu sein. Der Zwischenraum war höchstens fünfzig Zentimeter hoch. Sie rutschte Platte für Platte durch einen Nebel aus ungesundem weißen Staub.
    Unten hörte man die Tür gegen die Wand knallen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich genau befand, konnte aber nur hoffen, dass die Geräusche, die sie beim Rutschen über das alte Holz und die dünnen Kartonplatten machte, nicht so laut waren, wie sie glaubte …
    BAM!
    Eine Kugel flog zwischen ihren Beinen durch.
    Sie rutschte schneller, als sie es für möglich gehalten hätte.
    Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie sich bewegte, aber das war egal. Ihr Überlebensinstinkt übermittelte nur einen einzigen Gedanken: Beweg dich!
    Dieselben physikalischen Gesetze jedoch, die sie gerade noch gerettet hatten, wählten diesen Moment, um die Seite zu wechseln. Esme krachte durch eine Deckenplatte und stürzte dreieinhalb Meter in die Tiefe auf einen Kirschholzstuhl, der unter ihrem Gewicht zersplitterte.
    Sie spürte etwas an ihrem Unterleib, es bohrte sich in ihre rechte Seite.
    War ein Stück Decke mit ihr hinuntergefallen? Sie hob den Kopf ein paar Zentimeter, um zu sehen, was dieses merkwürdige Gefühl verursachte, und sah einen Holzsplitter, der feucht und gezackt in einem Dreißig-Grad-Winkel aus ihrem Bauch herausragte.
    Tränen liefen über Esmes staubbedeckte Wangen. Durch einen Schleier konnte sie sehen, wie sich ihr der Mann näherte. In seinen Händen hielt er ein kurzes Gewehr. Ihre Lider flatterten und schlossen sich. Es war zu anstrengend, die Augen offen zu halten. Sie spürte, wie sich der heiße Lauf an ihre Schläfe drückte. Er ging kein Risiko ein. Diesmal würde er nicht danebenschießen.
    Sie zog sich gedanklich an einen Ort zurück, an dem sie am glücklichsten gewesen war. Es war der Moment, an dem sie Tom Piper kennengelernt hatte.
    Damals hatte die Task Force noch nicht existiert. Tom war nur ein dekorierter Agent im Außendienst gewesen, und er und sein Partner Bobby Fink waren hinter einem Bekloppten aus Cape Cod her, der Touristen entführte, sie mit klein geschnittenem Fisch übergoss und dann den Haien in der Buzzards Bay zum Fraß vorwarf. Die örtliche Polizei, die Landes- und die Bundespolizei lagen sich in den Haaren, weil alle sich für zuständig hielten, und deswegen wurde das FBI eingeschaltet, um den Fall zu lösen. Doch Esme lernte Tom nicht etwa auf einem Boot in Buzzards Bay kennen. Auch nicht im kriminaltechnischen Labor in Boston, wo unerschrockene Mediziner die McGonquin-Familie aus dem Mageninhalt eines gut genährten blauen Hais wieder zusammensetzte.
    Esme traf Tom eine Woche später in Quantico. Der von den Medien „Metzger von Buzzards Bay“ getaufte Mörder hatte inzwischen elf Opfer auf dem Kerbholz. Tom stand gerade vor dem Büro von Assistant Director Trumbull, wo er sich mit mehreren Profilern verabredet hatte. Esme stand vor Trumbulls Büro, weil sie darauf wartete, gefeuert zu werden.
    Nun würde sie hier auf Daryls Tisch also sterben, mitten im Großraumbüro, auf ein altes Stück Holz gespießt, röchelnd und mit geschlossenen Augen. Noch keine Kugel, noch nicht – und so wanderten ihre Gedanken von Trumbulls Büro in den Kreißsaal des LIJ-Krankenhauses auf Long Island vor sieben Jahren.
    Rafe stand neben ihr. Rafe hielt ihre Hand. Sie lag nun schon acht Stunden in den Wehen. Rafe hatte sich nicht ein einziges Mal hingesetzt, nicht mal

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