Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
einen kurzen Moment, und er hatte ihre Hand nicht eine Sekunde losgelassen.
„Ich liebe dich“, flüsterte er. Er trug ein beigefarbenes Oxfordhemd. Er war direkt von der Arbeit gekommen. Sein Hemd war schweißdurchtränkt. „Ich liebe dich auch“, antwortete sie. Dann kam der Schmerz wieder, die millionste Wehe an diesem Tag, sie schrie heiser auf, und Rafe drückte ihre Hand. Der Arzt sagte etwas, sie sah ihn durch einen Nebel aus Schmerzmitteln und Erschöpfung an, und er lächelte, der Arzt lächelte, was für schimmernd weiße Zähne er hatte, und er richtete sich auf, etwas in seinen Händen haltend, und Esme dachte: Oh, das ist ein Laib Brot – doch das war dumm, denn warum sollte ein Arzt einen Laib Brot mit in den Kreißsaal bringen … vielleicht für ihren Mann, Rafe musste hungrig sein, doch Moment mal, nein, es war kein Brot, denn Brot konnte nicht schreien, oh, Sophie …
Esme öffnete verwirrt die Augen. Wo war der Arzt? Wo war Rafe? Dann stürzten die Schmerzen über ihr zusammen, und sie wusste wieder, wo sie war: in Amarillo, Texas. Sie war im Rathaus. Sie lag auf den Überbleibseln von Daryls Computer, und sie war tot …
Nur dass sie nicht tot war. Sie war nicht erschossen worden. Sie konnte zwar den Kopf nicht drehen, aber zumindest die Augen bewegen. Sie sah sich um, der Sniper war nicht da. Wohin war er gegangen? Warum hatte er sie nicht erschossen? Hatte er sie einfach langsam sterben lassen wollen? Nein, das ergab keinen Sinn. Das passte nicht in sein Muster. Sie hatte gesehen, wie er sich ihr genähert hatte. Er hatte sie töten wollen. Er hatte das Gewehr an ihre Schläfe gedrückt. Warum hatte er nicht abgedrückt? Warum …
Bevor sie sich weitere Fragen stellen konnte, wurde sie ohnmächtig.
Nachdem Tom den Einsatz abgebrochen hatte, brauchten die Task Force und die Polizei vierzehn Minuten bis zum Rathaus. Vierzehn Minuten. Alles Mögliche konnte in vierzehn Minuten passieren. Und Esme ging noch immer nicht ans Telefon.
Tom hechtete schon aus dem VW, bevor Lilly den Motor abgestellt hatte. Er raste die Treppe hinauf. Fast alle anderen waren noch dabei, von den Dächern zu klettern, doch das Team aus dem Überwachungswagen – einschließlich dem Polizeichef und Norm Petrosky – wartete schon an der Eingangstür auf ihn.
Obwohl das Rathaus für den Publikumsverkehr ab 18 Uhr geschlossen war, wurde die Eingangshalle vierundzwanzig Stunden am Tag von einem bewaffneten Sicherheitsbediensteten bewacht. Als Tom und die anderen hineinmarschierten, stand der Mann – ein dreiundvierzig Jahre alter Cowboy namens Lyle Costas – von seinem Stuhl auf. Er kannte den Polizeichef.
„Was ist los?“, fragte er. „Ist was mit der Bürgermeisterin?“
Der Polizeichef kannte ihn ebenfalls. „Lyle, ist hier irgendjemand in der letzten Stunde hereingekommen?“
„Nur ein oder zwei FBI-Agenten. Und Officer Milton.“
Tom gefror das Blut in den Adern. „Officer Milton?“
„Sicher. Er hat unterschrieben und alles. Ich habe sogar die Nummer seiner Dienstmarke.“
Während Lyle nach seinem Clipboard griff, hetzte Tom schon an seinem Tisch vorbei auf die Marmortreppe zu. Instinktiv tastete er mit der linken Hand nach seiner Waffe – doch die Schlinge hinderte ihn daran. Aus lauter Verwirrung hätte er auf der dritten Stufe beinahe das Gleichgewicht verloren. Inzwischen hatte Norm ihn eingeholt. Die Pistole bereits gezogen. Nebeneinander rannten sie in den zweiten Stock.
Die Büros befanden sich am Ende des südlichen Korridors. Schwaches Licht drang aus der offenen Tür des Großraumbüros. Die beiden FBI-Agenten näherten sich langsam.
Fünf Meter.
Vier Meter.
Drei Meter.
Tom trug Stiefel. Norm trug Schuhe mit harten Sohlen. Es war für beide nicht leicht, geräuschlos über die Keramikfliesen des Gangs zu schleichen. Sie versuchten es. Sie waren Profis. Und eine von ihnen war in Gefahr.
Ein Meter.
Ich geh zuerst rein! , signalisierte Tom. Er hielt seine 45er in der unverletzten Hand.
Norm schüttelte den Kopf. Sei kein Idiot! , formte er mit den Lippen.
Sie hatten nicht die Zeit, zu streiten. Tom gab sich geschlagen.
Norm ging voraus. Tom folgte ihm. Sie konnten schon fast in den Raum blicken.
Es war ganz still.
Und wenn Esme tot war? Sosehr Tom es auch versuchte, er konnte sich diesen entsetzlichen Gedanken einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Er hatte sie schon früher in Gefahr gebracht. Sein ganzes Team hatte er in Gefahr gebracht. Das gehörte einfach zum Job dazu.
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