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Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Titel: Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Corin
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Doppelbett, gab die Nummernkombination ein (7-27, Eunices und sein Hochzeitstag), und klappte ihn auf. Die Scharniere müssten mal wieder geölt werden, und die Fütterung innen war ein wenig schimmlig, doch davon abgesehen war er noch tipptopp in Ordnung. Nicht schlecht für ein vierunddreißig Jahre altes Gepäckstück, das er sich damals aus einem Sears-Katalog bestellt hatte.
    Natürlich hätte Lester sich auch ein neueres Modell leisten können. Durch lebenslange harte Arbeit in der Münzautomatenbranche war er ein wohlhabender Mann geworden. Und er war auch nicht etwa knickrig. Er hasste es nur, verschwenderisch zu sein. Warum sollte man ein neues Gepäckstück/Auto/Haus kaufen, wenn das alte noch in Ordnung war?
    Er begann mit den Socken und Unterhosen. Die kamen immer zuerst in den Koffer. Sie waren schließlich die Basis der Kleidung und sollten somit auch die Basis im Koffer bilden. Es gab immer einen richtigen Weg und einen falschen, und nur Narren (wie seine Schwiegertochter Esme) wählten den falschen Weg.
    Zu hören, was ihr in Amarillo zugestoßen war, hatte ihn nicht sonderlich überrascht. Dieses Mädchen war eine tickende Zeitbombe. Das hatte er Rafe auch gesagt, sehr oft, mit einem Scotch in der Hand. „Liegt daran, dass sie keine Eltern hat“, hatte er erklärt. „Sie ist wie ein Boot ohne Ruder, lässt sich treiben, wohin der Wind sie bläst, selbst wenn sie mitten in einem Sturm steckt.“ Doch der Junge hatte sie trotzdem geheiratet. Zumindest hatte er genug Verstand besessen (mit etwas finanzieller Unterstützung von seinem alten Herrn) und war mit seiner Familie nach Long Island gezogen. Aber Esme konnte nicht aus ihrer Haut – sie blieb eine tickende Zeitbombe. Und jetzt lag sie auf einer Intensivstation in Texas, und Rafe wollte hinfliegen, um bei ihr zu sein, und Lester tat wie immer das, was getan werden musste. Deshalb also der alte blaue Koffer, den er jetzt für einen unbestimmt langen Aufenthalt in Oyster Bay packte. Er musste sich um Sophie kümmern, und er war der richtige Großvater für diese Aufgabe.
    Nach den Socken und Unterhosen kamen die Hosen. Lester liebte Jeans. Die waren strapazierfähig, zuverlässig und passten so ziemlich zu allem. Er faltete zwei ausgewaschene Levis zusammen. Die dritte würde er auf der Reise tragen. Auf die Jeans kamen zwei Button-down-Hemden. Dann seine Toilettenartikel, die er in eine verschließbare Gefriertüte stopfte, seine schlammbespritzen Nikes und seine Herzmittel, die er neben die Toilettensachen packte. Zum Schluss eine sehr alte Taschenbuchausgabe von Walt Whitmans Gedichtzyklus „Grashalme“ mit einer Widmung von Eunice. Es war das erste Geschenk, das sie ihm jemals gemacht hatte, und egal, wohin er auch reiste, es hatte immer einen Platz in dem alten Blauen, ganz oben.
    Der Koffer ließ sich ohne Probleme schließen. Lester war bereit zum Aufbruch.
    Er hatte bereits seinen Nachbar Gus Francis gebeten, sich um die Post zu kümmern, solange er weg war. Gus, ein pensionierter Colonel, hatte seine Frau in etwa zur gleichen Zeit verloren wie Lester. Unter der Woche tranken sie jeden Abend zusammen ein großes Glas Bier in Gus’ Küche. Die Wochenenden gehörten der Familie.
    Lester verstaute den alten Blauen im Kofferraum seines Cadillacs, ließ den Motor an (der nach fast 190.000 Meilen noch immer schnurrte), und begann die dreistündige Abenteuerfahrt durch den frostigen südöstlichen Teil New Yorks. Die ganze Fahrt wurde er von Bob Dylan begleitet. Die beste Musik des zwanzigsten Jahrhunderts – zumindest darin war er sich mit seiner durchgeknallten Schwiegertochter einig.
    Tatsächlich war ihre Durchgeknalltheit der Grund gewesen, warum sein Sohn und sie sich überhaupt kennengelernt hatten. Als sie die Geschichte bei ihrer Hochzeit erzählt hatten, hatten die Gäste laut gelacht und geklatscht! Eunice hatte gelacht und geklatscht! Lester hatte sich nichts anmerken lassen. Es wäre unfein gewesen, während der Rede seines Sohnes finster dreinzublicken.
    „Das alles hier“, hatte Rafe verkündet, „verdanken wir einer Bekanntschaftsanzeige.“
    Der Bräutigam griff in die linke Smokingtasche und zog eine Anzeige heraus, fein säuberlich ausgeschnitten und laminiert. Die Hochzeitsgäste lauschten verzückt. Esme, die neben ihm saß, wurde rot.
    „Singlefrau“, las er vor, „achtundzwanzig, auf der Suche nach intelligentem Leben im Universum. Mit einer Vorliebe für Erdlinge. Bonuspunkte für Spontaneität, Kreativität und

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