Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
arbeitenden Amerikaner wurden rund um die Uhr von den Medien verfolgt. Um zumindest ein wenig für sich zu sein, hatten die Kellermans deshalb mit den wichtigsten Fernsehstationen eine Vereinbarung getroffen: Sie sollten die Familie eine Woche lang in Frieden lassen, dann würde der Gouverneur bei seinem ersten öffentlichen Auftritt auf Long Island den Vizekandidaten nominieren. Der April war für eine Nominierung eigentlich viel zu früh, doch handelte es sich dabei um die höchste Trumpfkarte, die Bob Kellerman ausspielen konnte. Die Medien nahmen den Vorschlag an. Aber natürlich konnte niemand die Unkontrollierbaren zurückpfeifen – Blogger und Paparazzi –, deswegen fand Kellermans Wahlkampfleiter hierfür eine Lösung, die fast so alt war wie die Menschheit selbst: Doppelgänger von Bob, seiner Frau Betsy, ihren zwei Kindern und sogar ihrem Golden Retriever wurden engagiert, um bezahlten Urlaub in Disney World in Orlando zu machen.
Die wirkliche Familie verbrachte die Woche in Südkalifornien. Sie fuhren zweimal mit dem Space Mountain ins Disneyland, sie aßen Hühnchen in der Knott’s Berry Farm. Sie verbrachten einen Tag auf Catalina Island. Als sie mit der Fähre zurückfuhren, konnten sie Delfine sehen. Jeder auf der Fähre rannte an die Reling, zeigte auf die Meeressäugetiere und zückte die Digitalkamera, und niemand – überhaupt niemand – würdigte Bob, seine Frau Betsy, die beiden Kinder und den Golden Retriever eines Blickes.
Esme verbrachte die Woche mit zerrütteten Nerven. Am ersten Tag kaute sie die Fingernägel bis zum Nagelbett ab. Am zweiten Tag hatte ihr ruheloses Hin-und-Her-Wandern sichtbare Spuren auf dem Wohnzimmerteppich hinterlassen. Sie freute sich sogar auf ihre täglichen Besuche bei Amy Lieb, weil sie die Arbeit dort ein wenig ablenkte. Am 12. April sollte sie offiziell wieder in die Gesellschaft von Long Island eingeführt werden – die Rückkehr der alten Esme. Aber war sie noch die Alte? Konnte sie noch die Alte sein? Ihre Nachbarn hatten sie in den Nachrichten gesehen. Sie wussten, was ihr widerfahren war. Auch wenn sie in einem zweitausend Dollar teuren Abendkleid zu der Spendengala ging, wen würden die Leute wirklich sehen?
Und war ihr das überhaupt wichtig?
Nun, ob es ihr wichtig war oder nicht: Ihr Verhalten jedenfalls wirkte sich auf ihre Familie aus. Auf Sophie. Solange man Esme nicht wieder als ganz normale Mutter betrachtete, würden die anderen Eltern ihren Kindern nicht erlauben, mit Sophie zu spielen. So einfach war das. Und deswegen war der 12. April vor allem für Sophie so wichtig.
Esme verbarg ihre Nervosität ganz gut. Abends, wenn Rafe nach Hause kam, saßen sie zu viert beim Abendessen (da Lester ihrer freundlichen Aufforderung, sich zu verpissen, nicht gefolgt war), und sie tat so, als ob es Amarillo nie gegeben hätte. Alles war ganz wunderbar. Die Schüssel mit Brokkoli herüberreichen? Sicher. Einfach vorlehnen, die Schüssel anheben, den Schmerz im Rücken ignorieren, und das war’s. Wenn Schlafenszeit war, glitt sie neben ihren Ehemann unter die Bettdecke. Sie küssten sich. Er sagte, dass er sie liebte. Er sagte, dass er stolz auf sie wäre. Die folgenden drei Stunden verbrachte sie damit, eine irgendwie erträgliche Lage zu finden, um endlich zu schlafen. Manchmal half es, ein kleines Kissen unter ihr Steißbein zu schieben. Der 12. April kam immer näher.
Und dann waren da noch die Anrufe von Tom.
Sie hörte sich die Nachrichten, die er hinterließ, nicht an. Das konnte sie einfach nicht. Er rief mindestens ein Mal am Tag an, und sie löschte alles, was er hinterließ. Sie löschte auch seine E-Mails. Zwar fand sie es schrecklich, ihn so zu behandeln, aber sie hatte ihm schließlich ihre Meinung sehr deutlich dargelegt. Manchmal musste man Brücken hinter sich abbrechen, und sie wusste, dass sie eine vernünftige Entscheidung getroffen hatte. Leider half Vernunft bei einem gebrochenen Herzen nicht viel weiter. Wenn sie mit ihm sprechen würde, fürchtete sie, nicht ein zweites Mal Nein sagen zu können. Vielleicht nach der Spendengala. Wenn der 12. April vorüberging, ohne dass eine Katastrophe geschah, dann wäre sie stark genug, mit ihm zu sprechen. Aber nicht jetzt. Auf keinen Fall. Ganz zu schweigen davon, dass seine Anrufe sie ständig an die tödliche Verbindung zwischen der Spendengala und Galileo erinnerten.
Während die Tage vergingen, während sie sich immer weiter zwang, in ihr altes Leben zurückzukehren, veränderten
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