Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
Rasen geschadet hatte, hatten die Liebs einen Tag vor der Veranstaltung einen halben Hektar frischen Rasen ausrollen lassen. Das Ergebnis war ein voller Erfolg. Für die Gäste, die nach und nach eintrudelten, erschien der Garten wie ein grünes Wunderland, wie aus „Der große Gatsby“. Der Rasen erstreckte sich über hundertachtzig Meter von der hinteren Veranda bis zu der lang gezogenen zerklüfteten Klippe mit Blick auf die Nordküste. Ein brauner Zaun säumte die Klippe zum Schutz von Kindern. In jeden einzelnen der zwanzig Pfosten hatten örtliche Künstler die Gesichter der Lieb’schen Vorfahren geschnitzt. Amy erzählte ihren Kindern gern, dass sie eines Tages auch auf einem der Pfosten zu sehen wären.
Die Journalisten erschienen um 18:30 Uhr und zertrampelten den neuen Rasen. Sie durften nicht ins Haus, also warteten sie auf dem Rasen und verspeisten die Hotdogs und Hamburger, die ihnen die Liebs fürsorglich hingestellt hatten. Doch wäre jeder einzelne Reporter lieber im Haus gewesen. Dort spielte sich das eigentliche Geschehen ab. Irgendjemand in diesem Haus war der Mann – oder die Frau –, die Bob Kellerman als seinen Vizekandidaten nominieren würde. Vielleicht der Bürgermeister von New York? Sie wussten, dass er hier war. Alle demokratischen Politiker aus der Gegend waren hier, und auch ein paar republikanische. Deren Kandidat, der Vizepräsident, lag bei den Umfragen nur knapp über dreißig Prozent. Die Partei hatte den alten Mann gebeten, nicht zu kandidieren, da die meisten Wähler ihn tattrig und altmodisch fanden. Doch die Vorwahlen hatten leider keinen schlafenden Riesen geweckt, der ihn hätte niedertrampeln können, und deswegen war leider der Vizepräsident nach wie vor der Kandidat der Republikaner bei der Wahl im November. Deswegen war er heute hier, bei einer Spendenveranstaltung der Demokraten, um sich bei dem wahrscheinlichen künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten einzuschmeicheln. Bei Bob Kellerman.
„Was denkst du, wie er ist?“, fragte Rafe.
Esme zuckte mit den Schultern und starrte aus dem Autofenster. Sie saßen bereits seit einer Stunde in ihrem Prius und waren an Platz 25 in der Schlange vor dem bewachten Parkplatz.
„George Washington hat Mundgeruch gehabt.“
Esme sah ihren Mann an. „Wie bitte?“
„Kam von seinen dritten Zähnen. Es wird erzählt, dass der Präsident des obersten Gerichtshofes, John Jay, die Luft anhielt, als Washington den Amtseid ablegte, aus lauter Furcht, sonst vor all den Würdenträgern in Ohnmacht zu fallen. Das wäre ein ziemlich ungünstiger Beginn für ein junges Land gewesen, oder?“
Esme lächelte ihm zu. Er versuchte sie aufzumuntern, weil er wusste, wie nervös sie war. Als sie über seine Hand strich, berührten sich ihre Eheringe.
„Wobei ich nicht glaube, dass Bob Kellerman Holzzähne hat“, fügte Rafe hinzu.
„Vielleicht hat er ein Holzbein.“
„Warum denkt man bei Holzbeinen eigentlich immer an Piraten?“
Sie bewegten sich einen Meter, sie waren jetzt das vierundzwanzigste Auto in der Schlange.
„Das erinnert mich an den Abschlussball der Junior High School“, schmunzelte Rafe. „Habe ich dir je davon erzählt?“
„Ich weiß nicht.“ Sie kannte die Geschichte, wollte sie aber noch einmal hören. „Was ist passiert?“
„Der Ball fand in diesem alten Hotel in der Stadtmitte statt. Ich bin mit einem Mädchen namens Carly McGuiness hingegangen. Wir waren nur Freunde. Das Mädchen, das ich eigentlich fragen wollte, Hannah Draper, hatte schon eine Verabredung.“
„Armer Junge!“
„Ja, danke.“ Nur noch dreiundzwanzig Wagen. „Jedenfalls habe ich mich total herausgeputzt. Es war überhaupt das erste Mal, dass ich einen Smoking trug. Und ich war so nervös, dass meine Mom mir helfen musste, die Manschettenknöpfe zu schließen. Meine Handflächen waren so nass wie eine Hundezunge.“
„Iiih.“
„Entschuldige, aber es war so! Mann, ich sah aus wie ein Depp.“
„Ich kenne das Fotoalbum.“
„Oje, hatte ich ganz vergessen.“
„Wie praktisch.“
„Also, ich borgte mir einen alten Wagen aus, um Carly abzuholen. Als sie an die Tür kam … Nun, bisher hatte mich dieses Mädchen kein bisschen interessiert, ich meine, wir waren Freunde … aber als sie an die Tür kam, in diesem Kleid …“
„Lass mich raten! Es war ein rotes Kleid, wie das, das ich gerade trage.“
„Weißt du was, Esme? Ich glaube, du hast mir ein Jahr Therapie erspart.“
Sie kicherte, während sie
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