Herr Klee und Herr Feld | Roman
Moritz war auch so stolz auf seinen kleinen Bruder …
Er spürte, dass sie weinte, als sie weitersprach.
Dann brach der Krieg aus. Louis kam ins KZ . Hätte ich sagen sollen: Ach, übrigens, bevor du gehst, ich bin nicht ganz sicher, ob Alfred dein Sohn ist?
Alfred schwieg.
Bist du noch da?, fragte sie.
Ja, sagte er.
Erst als wir in Amerika waren, wurdest du David immer ähnlicher. Körperlich, der Tonfall, der Humor. Ich hatte kaum mehr Zweifel. Aber David war in Europa verschollen. Es gab keinen Grund, diesen Verdacht zu äußern, verstehst du?
Weiter.
Als ich dann David nach dem Krieg wiederfand, wollte ich die Harmonie, die es zwischen dir und Moritz gab, nicht unnötig belasten und auch mein Verhältnis zu David …
Das verstehe ich nicht. Wieso konntest du uns nicht die Wahrheit sagen? Oder wenigstens Onkel David.
Genau deshalb. Weil er jetzt euer beider Onkel war. Ich war davon überzeugt, dass ich euer gutes Verhältnis zerstören würde. Der Vater von Moritz war tot, du solltest plötzlich einen haben! Wie konnte das gut gehen? Es gab den toten Louis Kleefeld und ihr wart seine Söhne. Aus. Schluss. Das gefiel mir.
Es gefiel ihr!, dachte er. Na wunderbar!
Aber wie konntest du damit klarkommen, David und mich miteinander zu erleben? Du hast uns um jeden Tag unseres Lebens betrogen, hast uns die Chance genommen, Vater und Sohn zu sein.
Du hast recht, und es tut mir so leid. Das musst du mir glauben. Aber, bitte, lass uns persönlich darüber sprechen, nicht am Telefon. Gib mir die Chance. Ich will dich sehen. Freddy?
Aber ich will dich nicht sehen. Er hängte den Hörer ein.
Genau einen Monat später, im Februar 1972 , befand sich Alfred auf dem Gelände der Universität von Berkeley und suchte das Büro von Professor Kleefeld.
Moritz’ Sekretärin Miss Harris bot ihm einen Kaffee an und bat ihn, einen Moment zu warten, der Professor würde gleich eintreffen.
Und so war es auch. Moritz, lange Haare, Schnauzbart, sechsunddreißig Jahre alt, ein wenig Mark Spitz, betrat sein überladenes Zimmer und nahm den kleinen Bruder, der größer war als er, in die Arme. Miss Harris schloss diskret hinter den beiden die Tür.
Freddy, erzähl, wie geht es dir?, fragte er, während er sich an seinen Schreibtisch setzte und Alfred sich einen Stuhl heranzog.
Danke, könnte mir besser gehen.
Einer meiner Studenten ist ein gewisser Ron Zanuck. Sein Onkel ist ein big shot in Hollywood. Ich kann mal mit ihm reden, wer weiß?
Mach dir keine Sorgen, was den Job betrifft, bin ich zufrieden. Ich bin wegen Mom hier.
Ja, sie ist kryptisch am Telefon, sagte Moritz, hat mich gefragt, ob und wann wir miteinander gesprochen hätten und so. Was ist los?
Als ich vor einem Monat den Nachlass von Onkel David verpackt habe, bin ich zufällig auf einen Brief gestoßen.
Was für einen Brief?
Ein Brief von Mom an David.
Und?
In diesem Brief gestand sie ihm, dass …
Was? Sag schon! Moritz wurde ungeduldig.
… dass Onkel David mein Vater ist!
Moritz starrte seinen Bruder an.
Nein! Sag, dass das nicht wahr ist, rief er.
Es ist aber so, wir sind nur noch Halbbrüder, sorry.
Ist sie sicher?
Anfangs war sie wohl unsicher, es ist in Paris passiert, 1937 . Aber dann in New York, als ich größer wurde, war sie davon überzeugt, dass er mein Vater ist.
Bitch!, rief Moritz und sprang auf.
So weit wollte Alfred nun nicht gehen.
Immerhin hat sie ihn geliebt. Und wenn es nicht passiert wäre, dann gäbe es mich nicht.
Es klang wie eine Entschuldigung.
Moritz lief in seinem Büro hin und her.
Warum rückt sie so spät damit raus?
Sie sagt, sie wollte unser Verhältnis nicht gefährden.
Quatsch, das hätte doch nichts verändert, oder?
Nein, bestätigte Alfred.
Das ist verantwortungslos. Sie hat keine Ahnung, was das für dich bedeutet. Für mich auch, aber für dich ist das hochdramatisch. Freddy, du hast über dreißig Jahre ein falsches Leben gelebt. Du hast ein Recht, die Wahrheit zu kennen, zu wissen, wo du herkommst, wo deine Wurzeln sind.
Stimmt, meinte Alfred.
Und wir sitzen jahrelang mit Onkel David am Tisch und spielen Schach und sind ahnungslos. Und er auch. Fuck!
Er schlug mit der Faust gegen die Wand.
Sie hat uns betrogen, das ist unverzeihlich!
Er ging zurück zum Schreibtisch und machte sich eine Notiz.
Ich werde ihr schreiben.
Was wirst du ihr schreiben?
Sie will im Sommer herkommen. Wir haben vor, zusammen runter nach Santa Barbara zu fahren. Aber ich will sie nicht
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