Herr Klee und Herr Feld | Roman
einzige Wichserei. Du merkst ja noch nicht einmal, wie lächerlich du dich machst mit deinen verstaubten Thesen. Psychologie der Masse! Wen interessiert das heute noch? Nach dem Holocaust weiß jeder Idiot, wie das funktioniert, da brauch ich nicht die abgestandenen Weisheiten von einem Moritz Kleefeld, dem Mann, der vor fünfzig Jahren schon unmodern war. Der sich eine Lücke geschaffen hat, die er selbst ausfüllt, immer und immer wieder. Seit Jahren derselbe Mist. Damit kannst du vielleicht ein paar ahnungslose Frankfurter Witwen beeindrucken, die dich dann für den Kulturpreis empfehlen. Du bist eine Witzfigur, nur sagt es dir keiner.
Moritz war tief gekränkt. Er versuchte, ruhig zu wirken, als er sagte:
Geh bitte. Ich will dich nicht mehr hier haben, in meinem Haus.
Du kannst mir nicht drohen, ich werde dein verschissenes Haus so schnell wie möglich verlassen, rief Alfred, lieber verrecke ich in der Gosse, als noch einen Tag länger hier zu sein.
Moritz schrie plötzlich los:
Ja, geh doch! Geh in die Gosse, wo du hingehörst, du Bastard!
Für Alfred war dieses letzte Wort ein solcher Schock, dass er meinte, den Boden unter den Füßen zu verlieren und ins Schwarze zu fallen. Er sah seinen Bruder einen kurzen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen an, dann stürzte er aus dem Zimmer.
Während er zur Haustür rannte, hörte er Moritz rufen:
Freddy, bleib hier, es tut mir leid! Es war nicht so gemeint!
Als Moritz aufgeregt zur offenen Tür kam, sah er nur noch die Schneeflocken, die in dieser kalten Nacht vom Himmel fielen.
Er blieb einen Augenblick unschlüssig stehen, dann lief er rasch an die Treppe und rief dabei: Zamira!
Sie kam heruntergelaufen.
Was ist passiert?
Mein Bruder, brachte Moritz mit schwerer Stimme hervor, wir haben uns furchtbar gestritten und dann ist er aus dem Haus gelaufen. So wie er war, ohne Mantel. Bei diesem Wetter. Wir müssen ihn finden.
Alfred war gelaufen und gelaufen, bevor ihm bewusst wurde, dass er immer noch seine leichten, geflochtenen Halbschuhe anhatte. Ein paar Mal wäre er beinah gestürzt, der frische Schnee war rutschig. Jetzt begann er auch zu frieren, seine Socken wurden nass und die Kälte zog langsam die klamme Hose hinauf. Der eisige Wind pfiff durch sein leichtes Sakko und das Hemd. Das T-Shirt darunter war nur ein schwacher Schutz.
Du Bastard, so klang es ihm noch im Ohr, das war unverzeihlich. Dass Moritz je so etwas sagen würde, hätte er niemals für möglich gehalten. Aber es bewies, wie er im Grunde seines Herzens dachte. Wir sind doch Brüder, hatte er getönt, egal wer unsere Väter sind! Diese Verlogenheit. Natürlich hielt sich Moritz für etwas Besseres. Er war das reinrassige Produkt aus der edlen Linie der Kleefelds und Alfred nur das unselige Kind eines armen Wäschevertreters. Das Erzeugnis einer durchzechten Nacht in einer billigen Absteige in Paris. Hätte es ein Bidet gegeben, wäre er nicht auf der Welt!
Mit einem Mal befand sich Alfred am Eingang des Grüneburgparks. Wie seltsam still und friedlich die Welt wurde, sobald Schnee fiel. Alfred ging noch ein paar Schritte, dann fand er einen einsamen Plastikstuhl, der umgekippt am Rand der Wiese lag, ein letztes Rudiment des vergangenen Sommers. Er hob ihn an, klopfte ihn ab und setzte sich. Er starrte auf die Wiese, in die Bäume, deren Äste langsam weiß wurden.
Warum hast du mir das nie gesagt?, schrie er seine Mutter am Telefon an. Er stand in einer der zahllosen Telefonzellen am Hauptbahnhof, die eine lange Reihe bildeten und ständig besetzt waren. Unruhig hatte er mit viel Kleingeld in der Hand gewartet, bis eine frei geworden war. Dann hatte er die Nummer in Cap Ferrat gewählt, wo sie sich nach ihrer Operation aufhielt. Ihre Freunde hatten darauf bestanden, dass sie sich erst bei ihnen erholen sollte, bevor sie in ihre Wohnung nach Nizza zurückkehrte.
Freddy, Liebling, sagte sie, ich kann jetzt nicht so reden, das verstehst du doch, aber wir sollten uns bald sehen, damit ich dir alles erklären kann.
Nein, sagte er kalt, ich will jetzt wissen, warum du mich mein ganzes Leben belogen hast!
Ich wollte dich nicht belügen, aber der Zeitpunkt, dir die Wahrheit zu sagen, ist immer weiter fortgerückt. Zuerst, als ich schwanger war, hatte ich wirklich keine Ahnung, ob David oder dein Vater, sorry, Louis Kleefeld …
Das ist ja toll, sagte Alfred.
… aber dann kamst du auf die Welt und trotz der schweren Zeit war Louis glücklich, du hast uns Hoffnung gegeben,
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