Herr Klee und Herr Feld | Roman
fette Mikrobe in der Petrischale.
Wie er dieses düstere Speisezimmer verabscheute! Dumpf, überladen eingerichtet. Der Geschmack seiner Schwägerin Fanny. Und das im 21 . Jahrhundert, unfassbar! Eine Vitrine mit Nippes, schwere Stühle, der wuchtige Tisch mit der geklöppelten Decke. Bilder an den Wänden mit biblischen Motiven. Das Rote Meer wird geteilt, Jakob, der Isaak opfern will! Kokolores!
Es gibt nichts Schlimmeres, als von einem anderen Menschen abhängig zu sein, dachte Alfred, als er in seinem Zimmer vor dem Spiegel stand und sein Hemd anzog. Das mit dem Schabbes tat er nur Moritz zuliebe, jahrzehntelang war ihm Schabbes egal gewesen, er hatte noch nicht einmal an Schabbes gedacht, wenn Schabbes war. Aber nun, da er mietfrei im Haus seines Bruders seinen Lebensabend verbrachte, war er gezwungen, Kompromisse zu machen. Und einer davon war dieser gottverdammte Schabbes!
Überhaupt das Jüdische!
Moritz Kleefeld war einmal als ein Linker gestartet, der an die Genese einer gerechten, sozialistischen Gesellschaft glaubte. In den ersten Jahren an der Universität wurde er von seinen konservativen Kollegen angefeindet, weil er sich auf die Seite der 68 er geschlagen hatte. Aber dann machte er erste bittere Erfahrungen.
Der linke Antisemitismus, der durch die Unterstützung von palästinensischen Terrororganisationen in den Siebzigern seinen Höhepunkt fand, ließ Moritz zweifeln. Die Nachbeben waren bis heute spürbar. Das Verteufeln von Israel gehörte inzwischen zum guten Ton und galt als Konsens. Viele seiner Studenten trugen bewusst oder gedankenlos die kefiah um den Hals, den »Pali-Lumpen«, wie er es nannte, erschienen damit selbstzufrieden zu den Vorlesungen, fühlten sich auf der richtigen Seite der Geschichte und hörten gleichzeitig ihren jüdischen Professor über »Aggression als politische Komponente« referieren.
Ebenso widerte ihn der Antiamerikanismus an, der es inzwischen zum deutschen Selbstverständnis gebracht hatte. Nicht die Tatsache, dass er US -Staatsbürger war, verlieh ihm diesen kritischen Blick. Ihm war klar, Nixon oder Bush jr. hatten ihren Anteil am miserablen Ruf der Amerikaner, aber die Linke war nicht bereit zu differenzieren. Die USA waren in ihren Augen keine Kulturnation. Sie liebten zwar die amerikanische Lebensart, Hollywood, Facebook und Apple, aber der Amerikaner an sich war ein militanter Einzeller, eine Hamburger mampfende Dumpfbacke. Dass allein der Staat Kalifornien innovativer war als Deutschland, trotz maroder Stromnetze und Schlaglöchern, wollten sie hier nicht wahrhaben. Wahrscheinlich nahmen sie den Amerikanern bis heute übel, dass ihr Volk einst durch sie befreit wurde.
Der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa führte Moritz die ungeschönte Wahrheit vor Augen, war aber eher eine logische Folge des »faschistoiden Sozialismus«, wie er es bezeichnete. Er konnte nicht aufhören, links zu sein, nur weil ihm die Ansichten vieler Linker nicht passten. Links und religiös sein schlossen sich für ihn nicht aus. Er hatte das Judentum ohnehin stets als eine »linke« Religion begriffen. Stand nicht im Talmud: Der kann nicht glücklich sein, der einen anderen unglücklich weiß? Das war jüdisch! Aufgeschlossenheit und Wagemut. Unzufrieden mit dem Gegebenen, Suche nach neuen Wegen, soziales Engagement, die Verantwortung für den Nächsten, nicht allein gut sein, sondern die Welt gut machen.
Das waren für Moritz Kleefeld die Ingredienzien einer aufgeklärten, humanistischen, jüdischen Ausrichtung. Deshalb nahm er heute sein Judentum ernster als früher. Die Pflege von Traditionen gehörte zur »Schablone des Lebens«, wie er es auch in seinen Arbeiten beschrieb. Nur auf einem sicheren Fundament der Moral, des Wissens und des Vertrauten konnte Neues errichtet werden. Deshalb bestand er auf einem koscheren Haushalt: aus Selbstdisziplin! Wobei er Gebote, Regeln und Rituale auf seine Weise modifizierte. Eine Art »Koscher-light-Version«. Ebenso verhielt es sich mit dem Schabbes.
Alfred klopfte an die Tür zum Badezimmer, das zwischen den Zimmern der Brüder lag und von jeder Seite eine Tür hatte.
Bist du da drin?, fragte er.
Zwei Minuten!, rief Moritz.
Moritz sah sich im Spiegel an. Das Alter zu ehren hatte er sein gesamtes Leben befolgt und nun stellte er fest, dass er selbst alt geworden war. Wurden nicht, so kam es ihm vor, Nase und Ohren größer? Er sollte mal wieder zu Dr. Nielsen gehen und sich die Leberflecken nachschauen
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