Herr Klee und Herr Feld | Roman
ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten war.
Er konnte es nicht erklären, aber irgendetwas in seinem Innern empfahl ihm, nicht die U-Bahn zu nehmen und auch nicht zur Hauptwache zu laufen, sondern zu Fuß durch die Taunusanlage zu flanieren, um zum Hauptbahnhof zu gelangen.
Und auf einmal stand er vor »Mutti«!
Ein halb kniender Frauenakt aus schwarzem Granit, lässig ein Gewand über der Schulter, ihr Gesicht in ihrer linken Hand, mit der rechten verdeckte sie eine nackte Brust. Auf dem Sockel des Monuments die Inschrift: »Den Opfern«. Als Aktmodell diente dem Künstler im Jahr 1920 die Primaballerina der Frankfurter Oper, die Jüdin Rosel Rosenberg. Sie war eine kämpferische, emanzipierte Frau und emigrierte nach der Machtübernahme der Nazis mit ihrer kleinen Tochter Ruth nach New York, wo sie bis zu ihrem Tod in einem Hotel lebte und Gymnastikkurse für Millionärinnen leitete. Auch Jacky Kennedy, Marina Stern und Ivana Trump gehörten zu ihren Kunden. »Mutti«, wie sie genannt wurde und was sie hasste – »Don’t call me Mutti!« –, war in den Vierzigern eine Freundin von Baby, Alfreds Mutter. Sie engagierte sich in der Frauenbewegung. Mutti lebte bescheiden und starb als reiche Frau.
Alfred konnte sich noch gut an die Nachmittage am Strand von Coney Island erinnern, gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder sowie Mutti und Ruth. Daran, wie beeindruckt er von der Sportlichkeit der beiden Frauen war und davon, wie lang sie Handstand machen konnten und dabei sogar auf den Händen im Sand liefen.
Eines schönen Nachmittags gab es plötzlich Alarm und alle Gäste mussten das Strandbad räumen. Die US -Navy hatte nahe der Küste ein deutsches U-Boot gesichtet! Mutti schimpfte laut, sie sei nun um die halbe Welt geflohen vor diesem Scheiß-Hitler und jetzt säße er in einem U-Boot und würde sie bis hierher verfolgen! Alfred war damals davon überzeugt, dass der Führer höchstpersönlich durch das Sehrohr starrte, um Mutti eine Breitseite zu verpassen!
Alfred berührte in einem Anflug von Sentimentalität den Sockel des Denkmals und dachte daran, dass es hier noch stehen würde, wenn es ihn längst nicht mehr gäbe. Und kein Mensch würde sich noch an »Mutti« erinnern.
Einige Minuten später stand er in der Kaiserstraße. Was war nur aus dieser einst so prächtigen Verbindung zum Bahnhof geworden? Eine Art Frankfurter Reeperbahn, nur uncharmanter und verkommener. Von den Seitenstraßen gar nicht zu reden. Sexshops, Bars, Imbissbuden, Bordelle. Dazwischen gesichtslose Bürohäuser. Das prächtige Haus aus rotem Sandstein, das einst die Kanzlei von Rechtsanwalt Dr. Dr. Lubinski beherbergte, stand noch. Im Erdgeschoss befand sich jetzt ein Militaria-Laden, wo sich Kriegsfreaks und Jagdfans einkleiden, bewaffnen und tarnen konnten.
Alfred dachte an Juliette, seine Jugendliebe, und die Stunden in der hochherrschaftlichen Villa der Lubinskis. Der erste scheue Kuss in der dunklen Garage, im Maybach auf dem Rücksitz. Dann das jähe Ende der Romantik, die Rache der strengen Mutter. Juliette wurde ins Internat gesteckt. Ein Jahr danach der plötzliche Tod des Anwalts, später der Tod der Mutter, vermutlich aus Gram. Juliette hatte in der Schweiz geheiratet, wo sie als Psychotherapeutin arbeitete. Zweimal hatten sie in den vergangenen fünfzig Jahren versucht, miteinander in Kontakt zu kommen. Einmal wollte ihn Juliette in Rom besuchen, anlässlich eines Kongresses, aber er musste nach Kroatien zu Dreharbeiten. Dann hatte er sie zur Premiere eines Films in Zürich eingeladen, aber sie war erkrankt und konnte nicht kommen. Alfred nahm sich vor, sie heute noch im Internet zu suchen.
Jetzt war Alfred beim ehemaligen Atrium-Lichtspielhaus angelangt, das einmal seine »Berufsschule« war. Er dachte an die Nachtvorstellungen, an die zahllosen Horrorfilme, die er sich reingezogen hatte, an den Besitzer, dessen Namen er vergessen hatte, den er aber ganz deutlich vor sich sah mit seiner kalten Zigarre im Mundwinkel. Das Atrium war zu einem klebrigen Sexkino mutiert, mit einem braunen Vorhang am Eingang, den man noch nicht einmal mit Gummihandschuhen hätte anfassen wollen.
Links davon, an der Ecke, hatte der Flachbau mit »Robby’s Teppichparadies« gestanden, in dem Alfred als Schüler gejobbt und am Straßenrand seine kleinen Brücken an den Mann gebracht hatte. Neben ihm bisweilen der Besitzer Herr Fränkel, der Berufsberliner, mit seinem »Hereinspaziert! Nur noch heute Sonderpreise!«
Robert
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