Herr Klee und Herr Feld | Roman
ironisch:
Sieht gut aus, nicht? Reine Seide. Jetzt sehe ich aus wie ein Chassid.
Moritz verzog den Mund.
In der Tat. Sehr geschmackvoll!
Alfred reagierte gespielt naiv:
Oh, don’t you like it?
Moritz lehnte sich zurück.
Ich habe mir abgewöhnt, dich positiv beeinflussen zu wollen.
Alfred daraufhin:
Gott soll mich abhüten. Dein Geschmack! Allein diese Strickweste!
Moritz reagierte:
Erstens, berufe dich nicht auf Gott. Zweitens, immer noch ansehnlicher als das da!
Er zeigte abfällig auf Alfreds Hut.
Was willst du?, sagte Alfred, habe ich extra für deinen Schabbes ausgegraben.
Es ist nicht mein Schabbes, es ist Schabbes!
Nein, es ist dein Schabbes! Keiner pflegt den Schabbes so inbrünstig wie du. Du gibst dich dem Schabbes förmlich hin …
Moritz zupfte ein Stück von der challe ab und sagte dabei:
Es ist allein der Schabbes, der die Juden über Jahrtausende zusammenhielt. Es ist dem unbeirrten Festhalten am Schabbes zu verdanken, dass das Judentum nach wie vor existiert. Alle intelligenten, seriösen und traditionsbewussten Juden pflegen den Schabbes.
Das ist ein Widerspruch! Intelligent, seriös, traditionsbewusst und auch noch Jude!
Alfred nahm ebenfalls ein Stück Brot.
Banause!, sagte Moritz.
Alfred erwiderte kauend:
Moische! Gerade am Schabbes rücken die weltlichen Fragen in den Hintergrund. Säkular wird sekundär!
Moritz blieb ruhig.
Und du wirst ordinär. Und nenn mich nicht Moische.
Wie soll ich dich ja nennen? Professor Moische?
Bevor Moritz etwas sagen konnte, betrat Frau Stöcklein mit der Suppenterrine den Raum und bemerkte sofort die miese Stimmung. Sie stellte die Terrine auf den Tisch und sagte dabei:
Na, na, nicht schon wieder Streit an Ihrem Schabbes!
Alfred erhob Einspruch:
Sie irren, gute Frau. Es ist nicht mein Schabbes! Es ist der Schabbes des seriösen, intelligenten, traditionsbewussten Professors. Finden Sie nicht, Schläfenlocken würden ihm gut stehen?
Frau Stöcklein schaute Alfred strafend an. Sie wollte etwas sagen.
Lassen Sie, Frau Stöcklein, sagte Moritz, mein Bruder kann nicht anders. Er leidet an PTBS .
Was ist das denn wieder?, fragte Frau Stöcklein.
Eine Posttraumatische Belastungsstörung, sagte Moritz.
Während er sich dabei die Serviette in den Kragen steckte, war Alfred heftig am Salzen.
Frau Stöcklein war aufgebracht.
Da! Jetzt salzt er wieder! Das macht er immer! Warum probieren Sie nicht erst?
Bevor Alfred sich äußern konnte, sagte Moritz:
Es ist das Krankheitsbild! Er glaubt, er sei zu kurz gekommen.
Alfred sagte freundlich leise:
Nenne mir doch bitte schön einen Punkt, an dem ich deiner Meinung nach zu kurz gekommen bin, hn? Ich bin größer als du, jünger als du, schöner als du!
Moritz tippte sich auf die Stirn.
Und meschuggener als ich! Bon appétit!
Frau Stöcklein stand noch einen Moment unschlüssig, bevor sie sagte:
Meine Herren! Ich werde Sie verlassen!
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2
Es war Alfred nicht leichtgefallen, sich wieder an das Leben in Frankfurt zu gewöhnen. Fünfzig Jahre Abwesenheit waren eine lange Zeit. Er musste sich dazu durchringen, am gesellschaftlichen jüdischen Leben der Stadt teilzunehmen, um nach Freunden von damals zu forschen und Erinnerungslücken zu schließen. Obwohl er nicht schüchtern war, hatte er Hemmungen, sich bei Leuten zu melden und zu sagen:
Hier ist Freddy Kleefeld, erinnerst du dich noch?
Welcher Freddy?
Da war ihm Marian Perlmann, der Hausarzt seines Bruders, eine Hilfe. Der hatte zu allen Kontakt. Alfred hatte Perlmann bereits gekannt, als sie noch Kinder waren. Als sie gemeinsam 1954 mit vielen anderen Juden in einem Café das Endspiel von Bern auf einem winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher angeschaut hatten und sich der kleine Marian als Einziger über den deutschen Sieg gefreut hatte und nicht verstand, warum ihn alle nach seinem Jubelschrei am liebsten umgebracht hätten.
Einmal im Monat kam Perlmann vorbei, er wohnte nur ein paar Häuser weiter. Er maß Blutdruck, hörte Moritz ab, untersuchte ihn, verschrieb Medikamente. Seit Beginn dieses Jahres hatte er mit Alfred einen weiteren Patienten.
Durch Perlmann erfuhr Alfred vom Verbleib einiger Menschen, die er in seiner Jugend gekannt hatte: Alle Teilacher wie Fränkel, Verständig, Szoros und Fajnbrot waren gestorben, ebenso Max Holzmann, dieser allerdings als Multimillionär. Benny Kohn war Journalist und lebte in Berlin, Maxele Grosser hatte das Modegeschäft seiner Eltern übernommen, Lenny Hofheimer war Neurologe und
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