Herr Klee und Herr Feld | Roman
Sie Ihre Maman abholen?, wollte Monsieur Lionel wissen.
Daran hatte Alfred noch gar nicht gedacht.
Ach so. Morgen, denke ich. Ich muss erst alles organisieren mit der Beerdigung.
Verstehe, meinte er, sie läuft ja nicht weg.
Diesen Witz machte er wohl täglich.
Alfred verließ das gerichtsmedizinische Institut, überquerte den kleinen Platz und setzte sich in ein Straßencafé. Weder Maurizot noch Monsieur Lionel hatte ihn nach seinem Ausweis gefragt, er hätte irgendjemand sein können. Ein Kellner kam. Alfred bestellte einen Tee und schaute sich um. Ein paar Männer tranken Pastis, ein Touristenpärchen machte Fotos. Was keiner von ihnen nur ahnen konnte: Er hatte soeben seine tote Mutter gesehen!
Er hatte immer mal wieder in den letzten Jahren daran gedacht, dass sie sterben könnte, er hatte versucht sich vorzustellen, wie das wäre.
Er, Freddy Clay, der im Film unzählige Tode gestorben war, der erschossen, gehenkt, ersäuft wurde, der verbrannte, dem man als Vampir einen Pfahl durch das Herz getrieben hatte, der auf dem elektrischen Stuhl endete oder als Zombie in die Luft gesprengt wurde, er konnte es sich nicht vorstellen, was der Tod wirklich bedeutete. Was war mit seiner Mutter geschehen? Was empfand sie während des Sturzes? Hat sie nach dem Aufprall noch gelebt? Starb sie unter Schmerzen?
Als er zahlen wollte, hatte er plötzlich den Brillantring seiner Mutter in der Hand. Er versuchte, ihn über den linken kleinen Finger zu streifen. Er passte.
Das Taxi war schon lange verschwunden, als Alfred immer noch vor dem Haus stand. Er schaute hoch zu ihrem Balkon. Gestern um diese Zeit hat sie noch gelebt. Vielleicht war sie auf den Balkon gegangen, hatte die Markise ausgefahren oder die Blumen gegossen. Er schaute sich um. Er war nicht sehr oft hier gewesen, vielleicht zehn Mal. Was war das schon in fünfundzwanzig Jahren? Oft hat er Dreharbeiten vorgeschoben, weil er einfach keine Lust hatte, hierherzukommen. Heute verfluchte er sich und wünschte, er könnte es wiedergutmachen.
Als er an der Tür stand, bemerkte er, dass man einen Code brauchte, um hineinzukommen. Hatte sie ihm das gesagt? Hatte sie ihm womöglich in einem ihrer letzten Briefe den Code geschrieben? Hoffentlich konnte man noch durch die Seitentür ins Haus, die sich neben dem Parkplatz befand. Der Parkplatz, ausgerechnet. Musste das jetzt sein? Neben dem Haupteingang gab es die Durchfahrt mit Schranke. Von dort konnte Alfred hinter das Haus kommen.
Auf dem Asphalt vor der zweiten Garage war noch die Kreidezeichnung zu sehen. Er blickte nach oben zum Schlafzimmerfenster. Dann vollzog er mit den Augen den Sturz nach. Wie lange mochte es gedauert haben? Vom Fenster bis zum Boden?
Im Hintergrund spielten Kinder mit einem Ball und eine Frau mit Kopftuch zerrte einen Kinderwagen durch die Seitentür.
Pardon, un instant, rief Alfred. Er lief los, um ins Haus zu kommen.
Mit dem Aufzug fuhr er in den sechsten Stock. Rechts war ihre Wohnung, links die der Nachbarin, Madame Mosbach. Alfred ging zur Wohnungstür. Rechts oben am Rahmen befand sich die mesusah. Er öffnete die Tür. Sofort hatte er den typischen Geruch in der Nase. Ja, so roch es immer bei seiner Mutter: sauber, ein wenig nach Mottenpulver und Bohnerwachs. Auch das Möbelspray, das sie beim Staubwischen verwendete, konnte er herausriechen. Die Wohnung war aufgeräumt, ordentlich wie immer. Die Küchentür stand offen, alles picobello. Durch das Speisezimmer kam er in den Salon. Auch hier alles comme il faut. Bis auf den Fernsehsessel. Die Plaiddecke, die sich Baby abends stets über die Beine gelegt hatte, lag auf dem Boden. Das passte nicht zu ihr. Alfred betrat das Schlafzimmer. Neben dem Fenster stand die Trittleiter. Das Fenster war geschlossen worden.
Die Türklingel schreckte ihn auf.
Er lief in den Flur und öffnete. Vor ihm stand winzig klein mit ihrem Rollator die Nachbarin.
Alfred, rief sie, das ist schön, dass Sie da sind!
Madame Mosbach, sagte er und küsste sie rechts und links auf die Wangen.
Ich habe es mir gedacht, dass Sie das sind, als ich hörte, wie die Tür ging. Kommen Sie doch herüber zu mir, dann reden wir ein wenig miteinander, wenn Sie möchten.
Muriel Mosbach war Elsässerin und ihr Deutsch klang etwas altbacken.
Gern, sagte Alfred.
Die Nachbarin hatte den Rollator gewendet und wackelte zurück in ihre Wohnung.
Alfred versank in dem ausgeleierten Sessel von Frau Mosbach, der ihr Fernsehsessel war. Sie hatte darauf bestanden,
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