Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Klee und Herr Feld | Roman

Herr Klee und Herr Feld | Roman

Titel: Herr Klee und Herr Feld | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Bergmann
Vom Netzwerk:
gelegt.
    Irgendwann nach Davids Beerdigung hatte Alfred einen Abzug des Fotos in dessen Brieftasche gefunden.
    Moritz war abgeschnitten!
    Zwanzig Jahre waren vergangen, seit Alfred in Davids Zimmer gestanden hatte, im Jüdischen Altersheim in Frankfurt. Alfred war gekommen, um die spärliche Hinterlassenschaft zu verpacken. Er erinnerte sich noch genau, wie schwer ihm das gefallen war. Warum hatte seine Mutter ihn damals nach Frankfurt geschickt? Wollte sie vielleicht, dass endlich alles ans Licht käme? Hatte sie es darauf angelegt?
    Alfred scheute sich, die Küche zu betreten, geschweige denn, sich einen Tee zu machen. Das Schlafzimmer war tabu. Er entschloss sich, ins Arbeitszimmer seiner Mutter zu gehen, das Zimmer, das sie für David vorgesehen, aber das er niemals bezogen hatte. Hier stand ein mächtiger, dunkelbrauner Schreibtisch mit eindrucksvollen Beschlägen und gedrechselten Säulen an den Ecken. Dahinter das schwere, überladene Bücherregal im selben Stil. Seine Mutter war eine fanatische Leserin gewesen und Bücher und Zeitschriften stapelten sich überall im Zimmer. Alfred setzte sich auf die Liege, auf der, wie bei Sigmund Freud in der Berggasse, eine orientalische Decke mit langen Fransen lag.
    Alfred nahm die Kutscherstellung ein und schaute auf den Teppich. Gab es nicht ein Bild von Hopper, das so ein ähnliches Motiv hatte? Ein einsamer Mann in einem Hotelzimmer.
    Er stand abrupt auf. Genau, das war es. Er wollte hier nicht sein. Jedenfalls nicht allein. Sie war keine vierundzwanzig Stunden tot und ihr Geist war noch immer hier. Das spürte er. Außerdem wollte er vor dem Eintreffen seines Bruders nichts berühren. Er war sicher, Fanny hatte ihren Mann instruiert. Sieh zu, dass Alfred sich nicht alles unter den Nagel reißt, hatte sie ihm bestimmt eingebläut.
    Nein, nein, werte Schwägerin, du altes Miststück, ich werde nichts beanspruchen. Außer diesem kleinen Ring, den ich am Finger trage. Und wenn du den auch willst, musst du ihn mir abschneiden!
    Die Aggression gab ihm Kraft. Er ging in den Salon und setzte sich auf den Hocker vor der Konsole mit dem Telefon. Der Apparat hatte eine Brokathülle! Porca Madonna, wie er dieses Chichi verabscheute. Aber es war nun mal ihr Geschmack. Deckchen, Rüschen. Überall silberne oder lederne Bilderrahmen mit Fotos, daneben Figürchen, Silberuntersetzer. Auf dem Tisch ein Brokatläufer, darauf eine künstliche Orchidee. So sahen noch heute in Frankreich die Salons der Bourgeoisie aus. Wie zu Zeiten der Belle Époque.
    Alfred zog den Notizzettel von Madame Mosbach hervor und wählte die Nummer des Rabbiners.
    Monsieur le rabbin?, fragte Alfred.
    Oui, antwortete ein Mann mit einer jugendlichen Stimme.
    Alfred erklärte dem Rabbiner, wer er sei und dass man sich um seine tote Mutter kümmern sollte.
    An was sie denn gestorben sei, wollte der Rabbi wissen. Er sprach mit einem harten Akzent.
    Alfred log und sagte:
    Es war ein Unfall. Sie ist aus dem Fenster gestürzt.
    Wie schrecklich, sagte der Mann am Telefon.
    Alfred sprach rasch weiter, um das Thema abzuhaken, und sagte, dass er sich für das Organisieren der Beisetzung mit seinem Bruder abstimmen wolle, der allerdings erst morgen früh in Nizza eintreffen würde.
    Der Rabbi setzte Alfred davon in Kenntnis, dass er die Frauen der Chewra Kaddischa umgehend über den Todesfall informieren müsse, sie würden die Tote heute noch aus der Pathologie holen und zum Friedhof bringen, um sie dort zu waschen. Üblicherweise müsse sie spätestens morgen begraben werden. Wir sind verpflichtet, den Toten die Ebenbildlichkeit zu bewahren, solange sie auf der Erde unseren Augen preisgegeben sind, unangetastet, unverletzt, ungeschändet, und sie der Erde zurückzugeben, bevor sie die Ebenbildlichkeit verlieren. So steht es geschrieben. Aber ich denke, wir können in ihrem Fall eine Ausnahme machen.
    Danke, sagte Alfred.
    Ihre Mutter war eine angenehme Persönlichkeit, sagte der Rabbiner nach einer Pause.
    Angenehm! Was für ein Wort!, dachte Alfred.
    Und sehr kultiviert.
    Kultiviert! Wann hatte Alfred dieses Wort zum letzten Mal gehört?
    Der Rabbi erzählte von seinen Begegnungen mit Baby und wie sehr er sie schätzen gelernt hatte. Ihre aufrichtige Religiosität. Und ihre Großzügigkeit.
    Ob er das in seiner Trauerrede erwähnen dürfe, fragte er schüchtern.
    Selbstverständlich, sagte Alfred. Sie habe es verdient.
    Der Rabbiner gab ihm den Namen und die Nummer des Mannes, der bei der Jüdischen Gemeinde für die

Weitere Kostenlose Bücher