Herr Klee und Herr Feld | Roman
dass er darin Platz nehmen sollte, denn in keinem Möbel saß man angeblich so bequem wie in diesem. Sie bewegte sich noch erstaunlich geschickt in ihrer Wohnung, wo sie sich überall festhalten konnte. Den Rollator nutzte sie nur, wenn sie die Wohnung verließ.
Mit zittrigen Händen bugsierte sie eine Schale mit Keksen auf den Rauchglastisch, wo bereits zwei kleine Weingläser standen. Dann folgte der Rinquinquin, ein Pfirsichlikör aus der Region.
Den haben wir am liebsten getrunken, Baby und ich.
Sie kicherte.
Dafür, dass ihre beste Freundin sich gestern Abend aus dem Fenster gestürzt hatte, war die Nachbarin erstaunlich aufgekratzt, dachte Alfred.
Sie hob das Glas.
Lechaim, sagte sie.
Lechaim, antwortete Alfred.
Das Getränk war süß und warm.
Schmeckt gut, nicht wahr, stellte die alte Frau fest.
Ja, sagte Alfred, sehr lecker.
Man braucht kein Eis zu nehmen, oder?
Nein, log Alfred.
Waren Sie schon bei der Gendarmerie?, wollte sie wissen.
Ja, sagte Alfred.
Sie sah ihn an.
Für Sie war das bestimmt ein Schock gewesen, aber für mich war es keine Überraschung.
Alfred war erstaunt.
Hat sie mal etwas angedeutet?, wollte Alfred wissen.
Vor ein paar Wochen hat sie zu mir gesagt, wenn das alles schlimmer wird, dann springe ich vom Balkon. Da habe ich gesagt, Baby, wenn Sie schon springen wollen, dann springen sie hinten, denn vorn stürzen sie in den Vorgarten auf das Gras und da ist man nicht sicher tot. Aber hinten, auf den Steinen, da sind sie hundertprozentig tot.
Alfred war entsetzt.
Aber warum wollte sie das tun?
Es ging ihr gar nicht gut. Sie hatte es am Darm. Sie musste immer auf das WC . Sie konnte nicht mehr rausgehen. Sie hatte ja früher die Bestrahlung.
Ich weiß, sagte Alfred, aber das ist Jahre her und ich dachte, sie wäre geheilt.
Ja, der Krebs war weg, aber der Darm, der ist porös geworden durch die Strahlen, und die Gefahr, dass er kaputtgeht, war sehr groß. Und deshalb hat der Docteur Weiss gesagt, sie braucht irgendwann ein Stoma, wie sagt man, einen falschen Ausgang. Und das wollte sie auf keinen Fall haben.
Trotzdem, sagte Alfred, man bringt sich nicht um. Wieso hat sie uns das angetan, meinem Bruder und mir?
Innerhalb einer Sekunde wurde aus der netten Oma von nebenan eine kämpferische Frau:
Jetzt hören Sie mir mal gut zu, junger Mann! Was sie Ihnen angetan hat, ist hier komplett egal. Je m’en fou! Es geht nur um ihre Mutter und sonst nichts. Ihre Mutter hatte fast achtundachtzig Jahre und spürte, dass sie, wie sagt man, dass sie ein Pflegefall wird. Es war ein letzter selbstbestimmter Schritt, den sie getan hat, solange sie es noch tun konnte. Und ich will Ihnen noch etwas sagen, Alfred. Ich habe über neunzig Jahre und wenn ich noch auf eine Leiter gehen könnte, würde ich es auch tun!
Alfred schwieg. So hatte ihn schon lang niemand mehr zusammengefaltet.
Sie entnahm ihrer Strickweste ein Blatt Papier und schob es ihm hin.
Hier. Das sind die Telefonnummern und die Namen von der Chewra Kaddischa und von der Gemeinde. Und von Rabbiner Abou. Ein Algerier, aber ein netter Mann. Sie müssen sich ja schnell um die lewaje kümmern. Ein Grab haben wir jeder schon gekauft. Wir liegen nebeneinander. Damit wir schmusen können.
Sie kicherte.
Ich gehe dann mal, sagte er und stand auf.
Und den Code von der Tür, den habe ich auch daraufgeschrieben. Ich weiß ja nicht, ob Sie den haben.
Danke.
An der Tür drehte er sich zu ihr um.
Noch eine Frage, Madame Mosbach, der Fernseher, lief der noch gestern, nachdem sie …?
Ja, sagte die alte Frau, die Television habe ich ausgemacht.
Alfred hatte die Plaiddecke aufgehoben und auf das Fußbänkchen gelegt, das vor ihrem Sessel stand. Er sah sich um und obwohl er alles kannte, war es ihm heute fremd. Es war ihm, als hätten auch die Möbel und Gegenstände eine Veränderung erfahren. Sie hatten ihre Funktion verloren. Selbst die Bilder schauten ihn mit stumpfen Augen an. Alfred musste sich zusammenreißen, er musste etwas tun. Telefonieren zum Beispiel.
Über der Konsole, auf der das Telefon stand, hing ein vergrößertes Foto. Meine Männer, hatte sie immer gesagt, wenn sie es ansah. Sie hatte das Foto gemacht, 1953 , mit ihrer alten Leica. In Knokke. An der Strandpromenade. Links Alfred, fünfzehn Jahre alt, in Bermudas, in der Mitte David. Ein bisschen Gatsby, in seiner weißen Bundfaltenhose und dem gelben Polohemd. Rechts Moritz mit überheblichem Studentenblick. Jeder hatte den Arm um die Hüfte des anderen
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