Herr Klee und Herr Feld | Roman
Lebensinhalts gemacht. Das müssen wir verändern. Da wir uns nicht mehr auf eine gemeinsame Vergangenheit verständigen können, da wir die Gegenwart in unserem Sinne subjektiv umdeuten, müssen wir es mit der Zukunft probieren.«
Nach Moritz’ Rede wurde applaudiert, auch wenige »Buhs« waren zu hören. Das irritierte ihn nicht, das kannte er aus den Hörsälen. Auf dem Weg in den Innenhof wurde er von vielen Menschen beglückwünscht, aber am meisten freute er sich über die Umarmung von Zamira. Er war nicht sicher, ob ihr seine Ausführungen durchweg gefallen hatten, aber es konnte nicht schaden, einer Araberin die Hintergründe dieses Konflikts aus jüdischem Blickwinkel zu erläutern. Alfred hatte sofort nach der Rede seinen Daumen nach oben gestreckt. Moritz hatte es gesehen und gelächelt.
Jetzt, da sie zu dritt mit Champagner an einem der Stehtische standen, die an diesem milden Abend im Innenhof der Synagoge aufgebaut waren, kamen Leute an ihren Tisch, nickten Zamira und Alfred beiläufig zu und verwickelten Moritz in Gespräche. Dabei war Zamira aufgefallen, dass die meisten lediglich die Absicht hatten, dem verehrten Professor zu beweisen, dass auch sie etwas wussten, und ihn mit zum Teil abstrusen Theorien überraschten. Aber Moritz war ein gut erzogener Mensch und nickte und meinte, das sei ein interessanter Gedanke, darüber müsse er nachdenken. Irgendwann nahm Alfred Zamira zur Seite und schlug vor, ihr die Synagoge zu zeigen.
Er ging mit ihr an den grauen Steinsäulen vorbei durch die Vorhalle und über die kühlen Flure, die er als Junge schon gegangen war, als er mit seinen Freunden heimlich in den Ecken rauchte oder Juliette Lubinski verliebt hinterherstarrte. Während er sprach, dachte er voller Wehmut an seine Mom, an David, an die Zeiten, die ihm in der Rückschau als unbeschwert erschienen. Er konnte sich an keinen Regentag mehr erinnern, sondern sah sich und die Welt von damals ausschließlich im Sonnenschein.
Vom Balkon schauten sie hinunter in den großen, inzwischen leeren Betsaal. Alfred erklärte der jungen Araberin die Gebetsordnung, beschrieb die Thorarollen, erklärte die Funktion der Menora, wies auf die Symbole der schönen, blauen und goldverzierten Mosaiken an den Wänden hin.
Als sie sich auf den Rückweg begaben, kam plötzlich eine Frau aufgeregt auf Alfred zugelaufen. Sie war elegant gekleidet, sah jugendlich aus. Sie stellte sich ihm in den Weg.
Kennst du mich noch, Freddy?
Alfred war zögerlich.
Milly?, fragte er vorsichtig.
Bingo!, rief sie und fiel ihm um den Hals. Lass dich mal drücken. Hundert Jahre ist das her.
Alfred löste sich und stellt seine Begleiterin vor.
Frau Latif, Milly Freiberger …
Legovici, verbesserte sie.
Natürlich, sagte er, und als er Millys Blick auf Zamira wahrnahm, fügte er an:
Frau Latif ist eine gute Bekannte.
Milly grinste und dachte sich ihren Teil. Und Alfred tat es gut, dass sie sich das dachte.
Ich lebe in Washington, sagte sie.
Ich weiß, meinte Alfred, Perlmann hat es mir erzählt. Ich habe dich mal gegoogelt, du leitest eine Art Agentur, stimmt’s. Für ethische Politik oder so.
Stimmt! Und du bist ein Filmstar geworden. Chapeau! Ich habe dich auch gegoogelt!
Sie lachten und dann sagte Milly zu Zamira:
Verzeihen Sie, aber Freddy und ich haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Wir waren befreundet, als Teenager.
Zamira lächelte und sagte:
Ich lasse Sie allein. Geh ich zum Professor.
Ich komme mit, sagte Alfred.
Und zu Milly gewandt:
Entschuldige …
Bist du zu Besuch hier, aus Rom, hielt ihn Milly zurück. Zu Ehren deines Bruders?
Nein, ich lebe jetzt in Frankfurt.
Na, wunderbar! Ich bin öfter hier. Lass uns doch mal treffen.
Gern. Du hast sicher eine Karte, sagte Alfred.
Nein, aber sag mir deine E-Mail.
Dracula at Frankfurt Punkt de.
Merk ich mir. Vielleicht kommst du mal nach Washington. Ich habe meinem Mann schon viel von dir erzählt. Er wird dir gefallen.
Okay, sagte Alfred, we keep in touch.
Er legte demonstrativ den Arm um Zamiras Taille.
Ciao, Milly.
Damit gingen sie fort.
Milly sah ihnen nach. In ihrem Blick lag Enttäuschung. Nach so vielen Jahren nur: »We keep in touch.«
Zu dritt auf dem Heimweg kam Zamira auf die Rede zu sprechen.
Sie haben den Holocaust, wir haben die naqba, warum können Sie das nicht akzeptieren?
Das tue ich ja, aber ich muss es nicht richtig finden, oder?
Und dass der Sechs-Tage-Krieg unrecht war?
Es ist bestimmt ein schrecklicher Einschnitt in Ihrer
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