Herr Klee und Herr Feld | Roman
Bruders, er kannte diese Anfälle bereits. Quartalsmäßig verfiel Alfred in eine aggressive Form der Depression. Zamira blieb unbeeindruckt im Zimmer.
Herr Klee, was ist los?
Er sah sie mit traurigen Augen an. Nach einer Pause sagte er:
Ich führe seit Jahren Tagebuch. Hier. Jeden Tag tippe ich meine Erlebnisse in diesen Computer. Und wenn ich dann irgendwann lese, was ich geschrieben habe, wird mir übel.
Gefällt es Ihnen nicht mehr?
Es passiert nichts! Das ist es. Jeder Tag ist wie der andere. Man braucht mich nicht. Mein Leben plätschert belanglos dahin. Ich habe keine Geliebte, keine Freunde. Ich kenne hier kaum einen Menschen. Alle sind mit Moritz befreundet, ich laufe so nebenher. Ich unternehme nichts, ich vegetiere. Ich habe das Gefühl, ich sterbe langsam ab in diesem Haus. Frühstück, Mittag, Abendbrot. Fernsehen. Das ist mein Leben, wie in einem Heim, verstehen Sie!
Schreiben macht keinen Spaß?
Vergessen Sie’s. Ich bilde mir ein zu schreiben, aber wenn ich meine Gedanken in diese Maschine tippe, dann hat das nichts mehr mit dem zu tun, was ich vorher im Kopf hatte.
Als ich Geige lernte, war das nicht anders. Ich habe gedacht, ich schaffe das nie.
Ich sage Ihnen die Wahrheit. Den halben Tag bin ich im Internet, lese Artikel, meistens schreckliche, die nur meine Vorurteile bestätigen, schaue, was es in Rom gibt und in Hollywood. Aber selbst das Surfen ist auf die Dauer öde. Es ist wie durch Straßen laufen, aber nicht wissen, was man da soll. Man bleibt vor Schaufenstern stehen und glotzt auf Produkte, die man nicht braucht. Verdammt noch mal, ich bin Schauspieler! Warum spiele ich nicht?
Müssen Sie losgehen. Müssen Sie die Leute nerven.
Das habe ich nie nötig gehabt, Klinken zu putzen.
Ist eben so heute. Bauen Sie eine Website, machen Sie Reklame. Sind Sie positiv.
Er lächelte.
Ach, Zamira, Sie sind goldig, echt.
Ich will Ihnen nur Tipps geben.
Er sah sie lange schweigend an.
Alt sein ist scheiße, sagte er dann, glauben Sie es mir. Früher wurde ich morgens wach und dachte: Schön, die Welt ist stehen geblieben und hat auf mich gewartet, heute wartet sie nicht mehr.
Hören Sie auf!
Nein, Zamira, ich bin auf einem Floß und treibe immer schneller dem Wasserfall zu.
Sie sind doch noch wie ein junger Mann, widersprach sie.
Glauben Sie mir, wenn man jung ist, kann man es sich nicht vorstellen, wie das ist, alt zu sein. Man wird nicht alt, man ist alt! Plötzlich fehlen mir Namen, dann kann ich mir nicht mehr die Socken anziehen, ohne außer Atem zu geraten. Aber ich will es nicht wahrhaben. Kürzlich sagte jemand in einer Talkshow: Ich bin zu jung für mein Alter. Das bringt es auf den Punkt, genauso fühle ich mich, zu jung für mein Alter.
Okay, dann habe ich eine schöne Aufgabe für Sie.
Und das wäre?
Machen Sie den Mercedes flott.
Den Benz? Hat Moritz das gesagt?
Ja. Wenn er wieder läuft und TÜV hat, machen wir eine Reise. Vielleicht nach Rom?
Wir beide?
Wir drei.
Alfred verzog das Gesicht.
Reißen Sie sich zusammen. Auf Arabisch sagt man:
Al forca qataa-er lemma zak bodho la zazokro ya’ter! Das Glück ist ein Vogel, du darfst ihn nicht entwischen lassen!
Alfreds Selbstzweifel hielten an. Für den Nachmittag hatte sich eine Journalistin angesagt, die ein Interview mit dem neuen Kulturpreisträger machen wollte. Das waren für Alfred deprimierende Momente. Meistens zog er sich dann in sein Zimmer zurück und gab vor zu arbeiten oder er flanierte durch die Stadt. Manchmal lief er nur mehrfach sinnlos das Rechteck Lindenstraße, Kettenhofweg, Brentanostraße, Bockenheimer Landstraße ab. Einerseits freute er sich über die Prominenz seines Bruders, aber er grämte sich andererseits darüber, dass er nicht ein wenig Sternenstaub abbekam, was er, wie er fand, verdient hätte.
Wissen Sie übrigens, dass mein Bruder Alfred, der weltberühmte Schauspieler Freddy Clay, mit mir hier in diesem Hause wohnt?
Das war ein Satz, den er bei Moritz vermisste und den einzufordern Alfred aus purer Zurückhaltung vermied. Wer weiß? Vielleicht würde die Journalistin gesagt haben, wow, toll, das passt ja super in unsere Film-Rubrik! Könnten Sie ein Interview arrangieren, Professor?
Alfred war davon überzeugt, dass durch eine Erwähnung in der Presse Produktionen aufmerksam würden: Mann, der Freddy Clay! In Frankfurt! Heiß! Sieh doch mal zu, dass wir da einen Kontakt kriegen.
All das ging ihm durch den Kopf, als er das Haus verließ, um sich auf die Suche nach einer
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