Herr Lehmann
Außerdem hatte er Hunger, also entschloß er sich, am Kottbusser Tor etwas zu essen. Aus Kreuzberg 6l wollte er so schnell wie möglich wieder raus, das deprimierte ihn immer, und durch Neukölln, und sei es nur das kleine Stück Bürknerstraße, das er auf dem Hinweg hatte nehmen müssen, wollte er schon gar nicht mehr gehen, das war noch schlimmer, deshalb war das Kottbusser Tor die beste Lösung, es war nicht weit dahin und dort gab es einige gute türkische Restaurants. Zuerst ging er dort in eine Telefonzelle und rief bei Katrin an, aber da meldete sich wieder nur der Anrufbeantworter. Langsam begann er sich Sorgen zu machen. Dann ging er in ein nahe gelegenes türkisches Restaurant der strengeren Sorte, eines mit Koran-Inschriften an der Wand und ohne Alkohol und so weiter, er hatte es vor einigen Wochen erst entdeckt, und es war zwar eigentlich mehr ein Imbiß, aber dieser Imbiß hatte ein paar Tische, an denen man sitzen konnte, und das Essen war das beste türkische Essen in der Stadt, davon war Herr Lehmann überzeugt. Er war damals, nachdem er es entdeckt hatte, gleich mit Katrin hingegangen, und ihr hatte es auch gefallen, das kleine, seltsame Restaurant, das eigentlich mehr ein Imbiß war, und es hatte, zumindest nach Herrn Lehmanns Meinung, auch unter romantischen Gesichtspunkten ordentlich was hergemacht.
Das ist das Gute an ihr, dachte Herr Lehmann, als er den kleinen Laden betrat, der unten im Neuen Kreuzberger Zentrum untergebracht war, etwas versteckt hinter den Gehwegeinfassungen aus Beton, daß sie sich, zumindest was Essen betrifft, nicht von Schnickschnack wie Kerzenlicht und arroganten Kellnern mit Schürzen blenden läßt, dachte er, daß es ihr um die Sache selbst geht, um das Essen vor allem. Und auch bei der Romantik, dachte Herr Lehmann, geht es um etwas ganz anderes als um diesen äußeren Schnickschnack, ob es romantisch ist oder nicht, dachte er, während er das Angebot in der Vitrine studierte, hängt in erster Linie davon ab, mit wem man ißt und was man ißt, das hat nichts mit schummrigem Licht und gefalteten Servietten zu tun. Und schummriges Licht war hier nicht, im Gegenteil. Es war auch nicht besonders voll, tatsächlich war Herr Lehmann der einzige Kunde. Dieser Laden wird seine Zeit brauchen, dachte Herr Lehmann, aber er war optimistisch, daß er überleben würde, es gab ihn noch nicht lange, da machte es nichts, wenn erst einmal keiner kam. Es wird auf Dauer schon genug Leute geben, dachte Herr Lehmann, die so dermaßen gute Köfte wie die hier zu schätzen wissen. Und Köfte bestellte er sich, so wie die letzten beiden Male auch, dazu Reis und eine Menge von diesem “Salat aus Petersilie und Kram”, wie er es nannte, als er mit dem Mann hinter dem Tresen sprach, der kaum ein Wort deutsch verstand, aber Köfte machte, daß es einem, wie Herr Lehmann dachte, das Wasser in die Augen treibt.
Außerdem, dachte er, als er sich mit einem Glas Tee an einen Tisch hinten an der Wand setzte und auf sein Essen wartete, ist in den mediterranen Ländern immer alles gut beleuchtet, es ist eine fröhlich machende Sache, dachte er, daß sie ihre Imbisse und Restaurants immer schön hell ausleuchten, die Türken lieben das Licht und nicht die Grotte, aber je mehr sie sich assimilieren, dachte er und rührte die beiden Stücke Zucker in das kleine, taillierte Teeglas, desto grottiger werden ihre Lokale, als ob das Altfränkische immer und überall durchbricht, dachte Herr Lehmann, fehlt nur noch, daß sie Butzenscheiben in die Fenster tun.
Davon konnte hier aber keine Rede sein, im Gegenteil, hier war alles blendend hell erleuchtet und die Fensterscheiben nahmen die ganze Wand nach draußen ein, und Herr Lehmann fühlte sich wie im Urlaub, als er seinen Tee schlürfte. Es wird Zeit, dachte er, wieder positiv zu denken, Hauptsache ist erst einmal, daß Katrin heil aus dem Osten raus ist, aber was soll ihr schon passieren, dachte Herr Lehmann, sie hat ja nun überhaupt gar nichts getan, da können die Ostler sagen, was sie wollen, außerdem haben die gerade andere Sorgen, und Geld hat sie auch nicht, das sie ihr abnehmen können, beruhigte er sich. Die düsteren Gedanken, die er auf dem Weg zum Savoy gehegt hatte, versuchte er jetzt zu vertreiben, das bringt nichts, so negativ zu denken, dachte er, es gibt auch eine Menge Gründe, warum man das alles nicht so ernst nehmen sollte, und der erste dieser Gründe ist, daß man niemals nach 6l gehen sollte, dachte Herr Lehmann, und wenn, dann
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