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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Regener
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fühlte sich erleichtert. Es ist gut, wenn man die Profis ranläßt, dachte er. Das ist wie mit Gasherden und so, dachte er, da fummelt man ja auch nicht selbst dran herum, dann fliegt einem sonst noch alles um die Ohren.
    “Und nicht nur des Kartoffelchips, würde ich mal sagen. Sieht so aus, als ob er alles mögliche mag. Und Sie? Trinken Sie viel Bier?”
    “Ja, wieso?”
    “Das sieht man ein bißchen, nehmen Sie’s mir nicht übel, aber das schwemmt ” auf. Im Gegensatz zu Wein. Andererseits brennt die Leber bei Bier nicht so schnell. Naja, jeder wie er kann.”
    Er schrieb wieder ein bißchen in seinen Papieren herum.
    “Was ist denn nun mit ihm?” fragte Herr Lehmann ungeduldig.
    “Der dürfte gleich einschlafen. Das ist erst mal das Wichtigste. Später muß man weitersehen. Wir sollten ihn auf jeden Fall über Nacht hierbehalten. Naja …”, er schaute zu Karl hinüber, der jetzt zu schnarchen begonnen hatte, “den würden Sie jetzt auch kaum wieder mitnehmen können, oder?”
    “Nein. Ist er denn wieder okay, wenn er geschlafen hat?”
    “Das ist schwer zu sagen. Ich denke mal nicht. Ihr Freund hat wahrscheinlich eine Art Depression. Eine Mischung aus Depression und Nervenzusammenbruch. Das haben wir hier öfter.”
    “Aber wo kommt das denn her?”
    “Naja”, sagte der Arzt und lehnte sich auf seinem Hocker zurück, bis er fast das Gleichgewicht verlor. Dann entschied er sich dafür, die Hände um eines seiner Knie zu verschränken. “Die sind unbequem, die Dinger”, sagte er. “Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Oft hängt das mit dem Zerbrechen des Selbstbildes zusammen. So erkläre ich mir das. Vielleicht hat Ihr Freund herausgefunden, daß er nicht der ist, der er die ganze Zeit zu sein glaubte.”
    “Wieso sollte er nicht sein, was er zu sein glaubte?”
    “Gute Frage. Ich würde mal vermuten, daß er ein depressiver Typ ist. Nehmen Sie mal diese Kunstsache, das mit der Ausstellung. Vielleicht war diese Ausstellung eine Art Stunde der Wahrheit, und da hat er Angst bekommen.”
    Das ist alles ein bißchen viel vielleicht, dachte Herr Lehmann. “Was denn für Angst?” fragte er.
    “Daß er versagt. Daß für ihn dabei herauskommt, daß er vielleicht gar kein richtiger Künstler ist. Dann bricht vielleicht alles andere auch zusammen. Das Leben hier in der Gegend ist leicht, wenn man jung ist: ein bißchen arbeiten, billige Wohnungen, viel Spaß. Aber die meisten brauchen auf Dauer irgend etwas, wodurch das legitimiert wird. Wenn das wegbricht … buff!” Der Arzt löste die Hände vom Knie und warf sie zu seinem letzten Wort in die Luft, wie um eine Explosion darzustellen. Dadurch fiel er fast hintenüber, er konnte sich gerade noch seitlich am Schreibtisch festhalten.
    “Hoppla! Aber wie gesagt: Kann sein, muß aber nicht. Das muß man erst sehen. Aber wir haben das hier öfter. Und bei ihm paßt alles ganz gut zusammen. Auch das mit dem Durchmachen, so was wird oft angeschoben durch Mangel an Schlaf, die Leute drehen immer weiter auf, Party ohne Ende, dann machen sie zwei, drei Nächte am Stück durch, ein paar Drogen dazu, dann sind sie labil und: buff!” Er warf wieder die Hände in die Luft, war diesmal aber besser vorbereitet. Dann rieb er sich die Augen.
    “Körperlich ist Schlaf nicht so wichtig. Aber wenn Sie erst mal zwei, drei Nächte nicht geschlafen haben, werden Sie auch irgendwann verrückt. Deshalb ist schwer zu sagen, was hier Roß und was Reiter ist. Ist er verrückt geworden, weil er so lange nicht geschlafen hat? Oder hat er so lange nicht geschlafen, weil er verrückt geworden ist?”
    “Ja, was?” fragte Herr Lehmann.
    “Naja, ich würde sagen: von beidem ein bißchen. Das muß man erst raus kriegen. Vielleicht ist es nur vorübergehend, aber vielleicht ist es auch eine ausgewachsene Depression. ”
    Herr Lehmann sah zu Karl hinüber, der auf dem Rücken lag, wie ein gestrandeter Wal, und schnarchte. Er kämpfte mit den Tränen. Jetzt werde ich selber noch labil, dachte er. Wenn das so weitergeht, dachte er, und: buff!
    “Was würde das heißen?” fragte er.
    “Das dauert. Ich empfehle in solchen Fällen immer, die Leute wieder nach Hause zu schicken und dort zu therapieren. Es sind ja fast immer Leute aus Westdeutschland.”
    “Dann soll er wieder nach Herford, oder was?”
    “Wenn’s schlimm ist - manchmal hilft das. Manchmal ist es auch kontraproduktiv. Das hat ja auch was Regressives, wenn man in so einer Situation wieder heimkommt. Das

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