Herr Merse bricht auf
Unbekannte aber unter keinen Umständen jetzt zu sehr zu verirdischen durch sexuelle Phantasien, die in ihm trotz seiner Müdigkeit machtvoll andrängten. Er polte die Phantasien um auf eine anonyme andere Frau, die er sich oft vorstellte, und verlor sich in seine vertrauten SB -Bilder. Er achtete darauf, dass nichts von der dunklen, schlanken Fremden sich hineinmischte, da er ihr wieder begegnen und zukünftiger Befangenheit vorbauen wollte. Es gelang ihm. Nie wieder Darinx, dachte er und schlief zufrieden ein.
Mittwoch
Die Sonne schien ins Fenster.
Herr Merse reckte sich und schaute ins Helle. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er geträumt hatte. Ein gutes Zeichen, dieser erste Traum seit Ewigkeiten! » Ich weiß, es will sich was verkünden / Und kann den Weg zu mir wohl finden«, murmelte er mit freudiger Betonung auf » wohl«. Auf Wiedersehen, Pillen, willkommen, Träume! Ihm war im Traum ein Hund erschienen. Ein Hund, von Größe und Art ein Jack Russel Terrier, aber wie ein Schaf geschoren und ganz weiß. Er sah aus wie ein Lamm und ging verloren. Wo, wie, warum war unklar. Man suchte, aber fand ihn nicht. Das Verlorengehen irritierte Herrn Merse. Wer oder was ging verloren? Und wieso Terrier? Diese Jagdbeißer, die gern mit viel zu langen Ästen quer im Maul auf schmalen Wegen herumliefen. Ich und Terrier?, dachte er. Dackel– ja, Terrier– nein.
Herrr Merse gähnte. Jack Russel Terrier waren schwarz-weiß. Immerhin lief sein weißer Lammterrier nicht in Barbaras Go-Farben herum. Ja, er hatte sich gemacht seit dem Ebbeschwimmen. Geschoren und verloren? Ein Schaf war ein Herdentier. Wurde bewacht. Genutzt. Zum Schluss geschlachtet. Da war ein Terrier besser dran, als Jagdtier. Lieber beißen als zwischen Zähnen zermalmt werden. Er verspürte Hunger auf ein deftiges Frühstück und setzte Wasser auf.
Das Schaftier erinnerte ihn an einen Winterabend mit Dagmar, ein paar Monate vor ihrer » Andreas-Eröffnung«. Ihr letzter gemeinsamer Ehewinter war ungewöhnlich kalt gewesen, und Dagmar, die das Schlittschuhlaufen liebte, gab immerzu » Parole Alster« aus. Wenn sie auf der zugefrorenen Alster wie auf alten holländischen Ölbildern ihre Kreise gezogen hatten, tranken sie Glühwein an provisorischen Ständen. Dass es immer Menschen gab, die auf einem Neuland ihre altgewohnten Angebote machten! Currywurst oder Glühwein. Dagmar hatte es toll, Herr Merse bemerkenswert gefunden. Nach dem Schlittschuhlaufen glühten und futterten sie sich also durch. Sonntagabends allerdings kochte Dagmar gern selbst, und weil sich Herr Merse in ihren Augen zu langsam und tölpelhaft angestellt hatte, gleichsam als Stockente auftrat ( » Und zwar extra!«), obwohl er aus seiner Sicht nur systematisch und gründlich war (Eigenschaften!), machte er sich dann nützlich, indem er laut aus der Sonntagszeitung vorlas. So auch nach einer Eis-Alstertour.
Dagmar hörte gern Skurriles, Schlimmes, Katastrophales. An jenem Sonntag las er ihr eine kurze Notiz von einem Schaf aus einer Herde vor, die auf vereister Weide vom Bauern vergessen worden war. Ein Schaf war dort in bitterer Kälte angefroren. Es wurde erschossen. Wie es zu der vergessenen Herde hatte kommen können, stand nicht in der Notiz, wohl aber, dass die anderen Tiere nicht angefroren waren. Nur einem war das Unglück zugestoßen. Wieso musste man es erschießen? Ob diese eiskalten Füße das Schaf sehr geschmerzt hatten? Hatten Schafe nicht Hufe? Waren Hufe nicht aus Horn und somit unempfindlich? Horn wuchs sogar an Toten unbeirrt weiter! Oder bedeckten die Hornhufe nur die empfindlichen Füße? Man hätte doch einfach warmes Wasser über Füße und Hufe gießen können, und das Schaf wäre gerettet gewesen!
Herr Merse hatte damals mit Dagmar diese offenen Punkte hin und her gewälzt. Diskussionen zwischen ihnen hatten sich stets schwierig gestaltet, da Dagmars Ansichten als feste Blöcke in ihr bereitlagen und unverrückbar blieben. Dagmar hatte zum Eisschaf kategorisch die Ansicht vertreten, dass erfrorene Gliedmaßen grundsätzlich erfroren blieben und schon gar nicht mit Wärme wiederbelebt werden konnten, das wäre viel zu plötzlich und würde unsägliche Schmerzen verursachen. Und um dem Schaf die vier Füße nicht absägen zu müssen, sei es eben erschossen worden. So. Herr Merse hatte bei dem Gedanken geschaudert. Damals wie jetzt. Dass Dagmar unverfroren von » Füße absägen« sprach. Dagmar hatte auch noch auf das Buch » So weit die Füße tragen«
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