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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Wünschelrutenausschlag. Das war eindeutig. Bei der Leere auf der linken Buchseite, da hatte es nur ein ganz leichtes Ziepen gegeben. Wie ein fragender Hinweis hatte es sich angefühlt. Es war im Übrigen nur die Herzseite, wenn man draufschaute; vom Buch aus gesehen war die rechte Seite leer. Auch das zu vieldeutig. Geradezu beliebig. Dann die Überschrift mit der » vergessenen Schwester«. Ein kleiner Ausschlag, etwas stärker als bei der Leere, wie ein winziger elektrischer Schlag. Aber dann der » Saugraum der Stille«. Das musste es sein. Ja. Vermutlich war alles zusammen auf ihn gemünzt, aber er konnte mit dem Saugraum der Stille am meisten anfangen. Er sprach ihn als » Klangstaubsauger« an. Er sammelte, was die anderen von sich gaben. Deswegen war in ihm, anders als in Ulrich, kein Saugraum der Stille entstanden, sondern ein Saugraum fremder Klänge. Wie der Staub und Dreck im Staubsaugerbeutel sammelte sich in ihm das Gerede der anderen an. Allein die vielen Dagmar-Sprüche! Herr Merse begriff.
    Er las die Seite bis dahin erneut. Dieser Ulrich kam wie er irgendwo an. Er hörte zunächst nicht, was die Leute auf dem Bahnhofsvorplatz so sagten, sondern er hatte noch die Stimmen seiner Mitreisenden im Ohr. Es war wohl eine lange Fahrt gewesen. Nicht wie seine, Herrn Merses, Fahrt nach Sylt. Sondern eine lange Fahrt, wie die durchs Leben oder bei ihm die durch die letzten drei Jahre. Ja. Aber Ulrich hatte die Fähigkeit, die Stimmen der anderen wie Tropfen aus seinem Ohr zu schütteln. Ulrich war kein Klangstaubsauger, es schien in ihn zwar allerlei hineinzufließen, aber dann neigte er den Kopf, sprang vielleicht auf einem Bein herum, und die Stimmen tropften heraus. Ulrich war frei, auf seine Leidenschaft zu hören, hier die Oper, also die Musik, während er, Ingo, alles ansaugte, vor allem das Negative, das ihn dann verstopfte. Bei Barbara und Dagmar hatte er besonders gut gesaugt. Ulrich schüttelte die Stimmen aus seinem Ohr wie der Zug die Ankommenden aus dem Bahnhofsrohr. Und wenn alles ausgeschüttelt und ausgeflossen war, dann entstand ein Saugraum der Stille.
    Herr Merse runzelte die Stirn und starrte aus dem Fenster. In Ulrichs Welt war der Saugraum also außen und saugte ihm seine Stimmen aus dem Ohr oder half ihm beim Austropfen der Ohren, während der Saugraum bei ihm, Ingo, drinnen war. Und das war das Problem.
    Die leere Seite– auch die zielte auf ihn ab. Er war gemeint, mit seiner übergestülpten weißen Tablettenhaube. Die weißen Pillen machten ihn von innen taub gegen das angesaugte Gerede. Durch die Scheuklappen sah er draußen nichts Neues. Taub, leer, blind. »Die vergessene Schwester«– oder hieß es »die vergessliche Schwester«? Er blätterte fahrig in dem Buch. Nein, vergessen. Das Schwesternorakel sprach ihn nicht an. Er hatte wenig Lust, sich mit Barbara zu beschäftigen. Ihn interessierte der Saugraum der Stille. Stille oder Leere. Er schaute auf die Uhr. Fünf vor halb elf.
    Er änderte seinen Plan und legte sich aufs Bett. Er hätte das Thema des Saugraums gern mit seinem Detmolder Freund Johannes diskutiert. Er stellte sich wieder vor, dass er ihn besuchte. Am Vormittag. Johannes kam gerade vom Spazierengehen und wirkte zurückgezogen. » Wie war’s?«, fragte Ingo. Johannes brummelte vor sich hin. Er setzte sich ans Klavier und begann suchend zu spielen. Ingo fühlte, dass er störte. Ach klar, Johannes war » spazieren« gewesen. Hatte Töne aus der Natur angesogen, kam voller Töne nach Hause. Besuch passte nicht. Vielleicht später. Sollte er still warten? Johannes spielte. Er hatte Ingos Anwesenheit wohl vergessen.
    Herrn Merses Bein kribbelte. Er ging im Zimmer auf und ab. Er wollte jetzt auch spielen. Er wusste, es war noch zu früh, aber er schüttelte das Agreement ab. Er steckte die Hand in den Schalltrichter und spielte ohne Vorbereitung die klagende Hirtenweise aus » Tristan und Isolde«. Sie weckt den schwerverletzten Tristan und erinnert ihn an seine Kindheit, vielleicht wie der seichte Platz Ulrich an Graz erinnerte. Oder, passender, Klagenfurt, dachte Herr Merse. Die Melodie war eigentlich nicht für Horn geschrieben, aber das war Herrn Merse egal. Die Tonabfolge war rhythmisch so schwebend und melodisch schwer fassbar, dass Dagmar darauf kein dummer Spruch eingefallen war. Sie hatte allerdings selten versäumt, darauf hinzuweisen, dass das Horn zu gewaltig für diese Melodie sei, auf der Querflöte klinge sie besser, also wenn schon ein anderes

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