Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
Vom Netzwerk:
verwiesen, in dem es um die Flucht eines Gefangenen aus Sibirien ging. Dieser Flüchtige war notgedrungen zum Schnee- und Erfrierungsexperten geworden, und von ihm hatte Dagmar in Erinnerung, dass man erfrorene Gliedmaßen ( » wenn überhaupt!«) mit Schnee abreiben müsse.
    Auch jetzt noch fand Herr Merse all das sehr widersprüchlich. Wenn das alles so klar war, warum hatte man dann dem Schaf die vier Füße nicht mit Schnee abgerieben? Hatte man sich überzeugt– und wie?–, dass die Schafsfüße schon durch und durch gefroren waren? Wie Eisbeine in einer Tiefkühltruhe? Wieder schauderte er. Die reine Vorstellung erzeugte in ihm eine schneidende Kälte, die sich unaufhaltsam vom Boden aus nach oben schob und ihn mit dem Untergrund zusammenfror. Er wollte mit den Füßen aufstampfen, strampeln und hampeln, aber nun vereisten erst die Unter-, dann die Oberschenkel. Das Knie wurde zum Eisknie und wanderte nicht mehr durch die Welt. Eine Schmerzstarre kroch immer höher, fraß sich vom Bein in den Körper hinein. Herr Merse sah sich von außen als Eisskulptur. Vor Jahren hatte er in Lübeck eine Ausstellung mit Eisskulpturen besucht. Im künstlich gekühlten Zelt, da es draußen milde gewesen war. Das Traumschaf und er bildeten jetzt dort vor seinem inneren Auge eine Zweierskulptur. Er trug das Schaf im Arm, das Schaf reckte den Kopf zu ihm und schaute ihn an. Plötzlich begriff er: Sie beiden waren nicht aus neutralem Eis gehauen, sondern waren erfrorenes, geschorenes, verlorenes Schaf und erfrorener, geschorener, verlorener Mensch. Das Schaf schaute ihn mit seinen erfrorenen Augen an wie die plastinierten Pferde den Betrachter vor dem Werbeplakat dieses Leichenausstellers…
    Herr Merse sprang aus dem Bett und bewegte die Beine stampfend und schlenkernd. Wieder so ein Abdriften. Er drängte es weg. Weg mit dem ewigen Eis. Weg auch mit Ei und Wurst. Hinaus mit ihm an die Luft, zum Joggen, ins warme Licht.
    Am Strand war es trotz der Morgenfrühe belebter als gestern im Regen. Einige Gäste joggten, Frühbader badeten, obwohl noch ein kühler Wind wehte. Es war Flut. Vom Türmchen wehten grün-weiß die Badeerlaubnis-Wimpel.
    Herr Merse rannte, er joggte nicht, er rannte, bis er schwitzte, um alles Eisige aus seinem Inneren herauszuschnaufen. Es wirkte. Mit zitternden Beinen ging er zum Bäcker und zum Zeitungskiosk. Wieder zu Hause, duschte er heiß, bereitete seinen Tee zu und ließ sich in den Sessel am Fenster fallen. Er legte neben dem Teller noch einmal die ganze Morgentablette bereit. Das Abdriften weichte ihn seelisch zu sehr auf. Als er die kleine weiße Pille zwischen Daumen und Zeigefinger aufnahm, um sie in den Mund zu stecken, hasste er sie plötzlich. Und sich dazu. Wie lebte er? Fremdgesteuert. Die Tablette klebte an seinem Daumen, und er klebte an der Tablette. Ein Mann mit Tabletten, ohne Eigenschaften. Dagmar hatte recht. Er hasste sich und hasste sie. Wer war daran schuld? Er stampfte hart mit dem Fuß auf ( » Reiß dich zusammen«!), erschrak dann vor seiner eigenen Heftigkeit (Eigenart?) und schluckte die ganze Tablette ohne Verzug hinunter.
    Er trank viel heißen Tee und aß das kalte Ei und zwei Brötchen. Dazu schaute er in die Zeitung. Nichts blieb haften. Durch das offene Fenster drangen Möwenschreie, die sich mit dem Gezirpe zarterer Vögel verbanden. Die Sylter Luft wehte herein. Unten auf dem Fußballplatz tummelten sich Jungen und Mädchen aus dem Schullandheim. Sie trugen unterschiedlich bunte Hemden; es bildeten sich Grüppchen, einige liefen schnell, andere machten Gymnastik. Offenbar jeder, wie er wollte. Lockerer Frühsport. Als Ingos Vater Leiter der Ferientransporte gewesen war, hatten sich die Ferienkinder morgens vor der Treppe zum Haupthaus in Reih und Glied aufstellen müssen. Barbara und er dabei. Sie wurden dann in » Riegen« eingeteilt und marschierten zum Sportplatz. » Im Frühtau zu Berge«, hatten die Ferienkinder gesungen, und er mit ihnen. In Achterreihen hatten sie den Sportplatz umrundet, alle in schwarzer Hose, weißem Hemd. Beim morgendlichen Tausendmeterlauf zogen sich die Reihen auseinander, man konnte » überrundet« werden, aber er war ausdauernd. Die kleineren Kinder liefen nur vierhundert Meter, eine Runde. Vor dem Frühstück.
    Die Kinder vor seinem Fenster sangen nicht. Trugen einige sogar iPods? Genau erkannte er das nicht auf die Ferne , aber sie wirkten fröhlich. Ein buntes Durcheinander. In ihm war ein graues Durcheinander. Er hätte jetzt gern

Weitere Kostenlose Bücher