Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
Vom Netzwerk:
Dagmars Tagebuch hiergehabt. Um zu sortieren. Zu verstehen. Aufzuräumen. Innerlich noch einmal auszuziehen. Alles war drei Jahre her, gut drei Jahre. Wer war schuld? Er wollte lesen, was sie geschrieben hatte. Warum hatte er das Tagebuch so lange nicht angerührt? Er hatte unter dieser Tablettenhaube gesteckt. Man sollte ihn zur Strafe im Tablettenhäubchen mit darangehäkelten Scheuklappen auf den Sportplatz jagen und fünf Runden laufen lassen. Da würden die unten aber staunen. Erst staunen, dann sich anstoßen und lachen. Ha. Mit dem Häubchen als Tarnkappe war er jahrelang durch seinen Alltag gerannt. Er schnaubte wütend und starrte auf die Kinder unten. Zwei Jungen schubsten einander . Einer fiel um. Ein anderer half ihm auf.
    Herr Merse drehte sich weg, kramte sein Handy hervor, rief Frau Niebuhr in Hamburg an, beschrieb ihr das Tagebuch– er nannte es » Mitteilungsbuch«– und wo es lag und bat sie, es ihm nachzusenden. Umständlich diktierte er ihr die Adresse. Er stöhnte leise. Der Auftrag war ihm unangenehm, weil er sicher war, dass sie den Ausdruck » Mitteilungsbuch« durchschauen und in dem Tagebuch lesen würde. Aber egal jetzt. Er schüttelte es ab. Er war Ebbeschwimmer. Er würde von jetzt an alles abschütteln.
    Herr Merse nahm das Horn aus dem Hornkoffer. Wie spät war es? Passte es in das Agreement? Konnte er auch das blöde Agreement abschütteln? Es war erst zwanzig vor zehn. Er fluchte und legte das Horn wieder zurück.
    Auf dem Tisch lag das Buch » Der Mann ohne Eigenschaften«. Voller Hass beschloss Herr Merse plötzlich, jeden Tag eine Seite aufs Geratewohl aufzuschlagen und sie sich laut vorzulesen. Und dabei nach innen zu wittern. Auf eine Verkündigung zu lauschen. Per Buch zum Orakel zu gehen. Wie die Menschen früher nach Delphi. Dagmar hatte ihm mit dem Buch etwas verkünden wollen, und er würde jetzt ihre Botschaft ergründen. Verkünden-ergründen. Er würde aber in seiner neuen Schafsterrier-Identität das dicke Buch nicht brav von vorne nach hinten durchdackeln. Nein. Er nahm es in beide Hände, wog seine Schwere, schloss die Augen und klappte es auf.
    Er landete mitten in der Mitte. Das zweite Buch– der Roman war in verschiedene Bücher eingeteilt– war zu Ende. Das erste Kapitel des dritten Buchs begann auf der aufgeschlagenen rechten Seite. Die aufgeschlagene linke Seite war leer. Stellte bereits die leere weiße Seite eine Botschaft dar? Er grübelte. Auch das Traumtier war weiß. Weiß gleich leer. Trotzdem erschien ihm dieses Orakel doch zu vieldeutig. Zu wortlos. Andererseits waren Orakel vieldeutig. Er las die Kapitelüberschrift auf der rechten Seite und dann die gesamte Seite laut in der Hoffnung, dass irgendetwas in seinem Inneren wie eine Wünschelrute anschlug, wenn » es« berührt wurde:
    Die vergessene Schwester
    Als Ulrich gegen Abend des gleichen Tags in … ankam und aus dem Bahnhof trat, lag ein breiter, seichter Platz vor ihm, der an beiden Enden in Straßen auslief und eine beinahe schmerzliche Wirkung auf sein Gedächtnis ausübte, wie es einer Landschaft eigentümlich ist, die man schon oft gesehen und wieder vergessen hat.
    Herr Merse unterbrach sein Lesen. Auf Anhieb war ihm dieser Ulrich, auf den eine Umgebung schmerzlich einwirken konnte, sympathisch. Wo spielte das Ganze? Musil war Österreicher. War Wien gemeint? Zu groß. Ein breiter, seichter Platz. Salzburg? Zu fröhlich und schnörkelig. Graz? Herr Merse kannte Graz nicht, aber der Name » Graz« hörte sich weit und seicht an. Er las weiter:
    » Ich versichere Ihnen, die Einkommen sind um zwanzig Prozent geringer geworden und das Leben um zwanzig Prozent teurer: das macht vierzig Prozent!« »Ich versichere Ihnen, ein Sechstagerennen ist ein völkerverbindendes Ereignis!« Diese Stimmen kamen dabei aus seinem Ohr; Kupeestimmen. Dann hörte er ganz deutlich sagen: »Trotzdem geht mir die Oper über alles!« »Das ist wohl ein Sport von Ihnen?« »Nein, eine Leidenschaft.« Er bog den Kopf, als müßte er Wasser aus seinem Ohr schütteln: Der Zug war voll gewesen und die Reise lang; Tropfen allgemeinen Gesprächs, die während der Fahrt in ihn eingedrungen waren, quollen zurück. Ulrich hatte mitten in der Fröhlichkeit und Hast der Ankunft, die das Tor des Bahnhofs wie die Mündung eines Rohrs in die Ruhe des Platzes ausfließen ließ, gewartet, bis sie nur noch tropfenweise rann; nun stand er im Saugraum der Stille, die auf den Lärm folgt …
    Saugraum der Stille. Heftiger

Weitere Kostenlose Bücher