Herr Merse bricht auf
gemacht. Klar! Andere baden bei Ebbe! Nur Ingo Merse nicht. Der liebe kleine Ingo nicht. Lass mich in Ruhe! Ist mir doch egal, ob deren Junge untergeht oder nicht. Was soll das alles. Ich will… ich will… ( » Kinder mit’m Willen / kriegen was auf die Brillen!«)
» Ich will nicht!« Herr Merse brüllte und lief wild gestikulierend zum Wasser. Der Aufruhr im Innern übertönte das auch bei Ebbe laute Rauschen der Brandung. Sollte es rauschen, sollte es branden. Er stand und stieß wütend mit dem Fuß Sand Richtung Wasser, rannte los und durchpflügte spritzend das flache Wasser, bis er zu den Wellen kam, warf sich hinein mit Boxershorts und T-Shirt, warf sich über die kippenden, gischtigen Wellenköpfe, schmiss sich gegen die Brecher, ließ sich auf den Wellenrücken fallen und ins Wellental gleiten und erneut hochheben, drehte sich auf den Rücken und kreiste raddampferartig seine langen Arme durch das Wasser. Seine Augen brannten. Es schmeckte salzig im Mund, er schluckte Wasser, spuckte es prustend aus. Er tobte. Sog, Sog, Sog. Soll es mich doch rausziehen. Es zog ihn aber gar nicht hinaus. Ohne Weiteres stemmte er sich nach einer gefühlten Unendlichkeit Richtung Strand zurück. Als er aus dem Wasser stieg, zitterten ihm die Beine. Er spürte an den Schenkeln den Sand, der mit den zurückflutenden Wellen hochgespült wurde. Er streckte sich und schüttelte die Fäuste gen Himmel. Ein Nackter lachte ihn an. Sollte der doch lachen.
Herr Merse trottete zur 1423 zurück, trocknete sich ab ( » Immer gleich die nassen Sachen ausziehen!«) und merkte erst jetzt, dass er nicht seine Badehose angehabt hatte. Sie hatte ihn also in der Stockentenhose gesehen. Trotzig zog er sie aus. Und wenn schon. Er stieß die Beine in die trockene Badehose, hüllte sich in seine Decke und schenkte Kaffee in den Deckel der Thermoskanne ein. Doch gut, dass ich nicht aufgestanden bin, dachte er, während die heiße Flüssigkeit sich in ihm ausbreitete. Im Sitzen kann sie ihr nicht aufgefallen sein. Mein Gott.
Eine Weile saß er so, wie ausgehöhlt, und schaute vor sich hin. Im Sand vor dem Korb lag etwas. Er stand in seiner Deckeneinwicklung auf und bückte sich. Es war ein Seestern mit fünf Armen ( » Armen!«). Tentakeln. Zacken. Hatten alle Seesterne fünf? Ein Arm war mittendurchgebrochen oder abgerissen. Ragte nur halb hervor. Der Seestern war klein, er passte auf seinen Handteller. Er war sandig, aber nicht vertrocknet. Womöglich lebte er noch? War ein Seestern überhaupt ein Tier oder eine Pflanze? Pflanzen kann man pressen. Getrocknete Seesterne gab es zu kaufen, getrocknet war ja fast wie gepresst. Er roch daran. Der Seestern roch lebendig. Salzig. Er ging zum Wasser und warf ihn hinein. Der Stern war so klein, dass er kaum flog und vor dem anlaufenden Wasser in den Sand fiel. Bleib doch, wo du bist, dachte Herr Merse missmutig.
Am Abend hätte er nach seinem Plan ein letztes Mal eine und zwei Drittel Tabletten einnehmen können, aber er verringerte die Dosis auf eineinhalb. Er wollte es jetzt wissen. Er spielte auch ein paar Töne auf dem Horn, gegen das Agreement mit Neudeckers. Er hatte den Eindruck, sich durch das Ebbeschwimmen von elterlichen Einengungen emanzipiert zu haben, und der Stolz darauf gab ihm einen Anflug von Hochgefühl.
Vor dem Einschlafen dachte er an die Frau mit den schlanken Beinen. Er betrachtete die Begegnung durch eine freundlichere Brille. Sie hatte sich einfach an ihn erinnert, ja. Schon im Zug war sie nett zu ihm gewesen. Heute hatte sie ihn beim Vorübergehen wiedererkannt und spontan angesprochen. Obwohl er mit geschlossenen Augen dagesessen hatte. Das hätte sie nicht tun müssen. Hätte einfach vorbeigehen können. Mit ihren braunen, gewellten Haaren. Ihrer eleganten Delial-Figur. Ihr leichtes, ein bisschen abwesendes Lächeln gefiel ihm besonders. Sie wirkte nicht entschieden. Eher vage. Hatte sie etwas Feenhaftes? Nymphenhaftes? Jedenfalls war sie mehr Syrinx als Dagmar. Aber zu feenhaft auch wieder nicht. Nein. Sie war eine frauliche Fee. Oder eine feenhafte Frau. Ja.
Er rekelte sich im Bett und konnte nicht umhin, sich vorzustellen, leicht über die Narbe und damit über das Bein zu streicheln. Es erregte ihn. Wo endete die Narbe? Am Venushügel? Venushügel, auch so ein mythischer Ausdruck. Er erinnerte sich an das Gemälde der Aphrodite von Botticelli. Ja, etwas von der hatte sie, allerdings war sie dunkler. Das fand er gerade gut, so war sie irdischer. Er beschloss, die
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