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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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war noch da, aber nicht so allumfassend; er fühlte sich benommen und ruhiger. Er drehte sich auf den Rücken und schaute in den Nachthimmel.
    Eine späte Möwe schrie. Der Schrei versetzte ihn zurück in das Studentenwohnheim in Detmold, wo eine Gesangsstudentin trotz Einspruchs von allen Seiten ihre Übungen durchgeführt hatte. Ihr Zimmer war direkt neben seinem gelegen. Eine Übung– er kannte alle ihre Übungen mit Namen, da sie gelegentlich zusammen gefrühstückt und sie gern ihre gesanglichen Themen ausgebreitet hatte– hieß » Die Möwe«. Eine nasale, ganz hoch angesetzte, dann von oben nach unten gezogene helle scharfe Stimmäußerung, eindringlich, unüberhörbar. Der Schrei erinnerte ihn an den Abend, als Dagmar zum ersten Mal mit auf sein Zimmer gekommen war, in ungewohnt wackeliger Verfassung, da sie meinte, schlecht gespielt und sich » blamiert« zu haben, und das vor ihrem Vater, der dieses eine Mal dem Konzert zugehört hatte. Sie war trostbedürftig, und so waren sie endlich zusammengekommen. Erst hatte er sie liebevoll umsorgt, was ihm leichtfiel. Er war so froh gewesen, dass sie bei ihm Anlehnung suchte. Glücklich. Er hatte ihr Wein eingeschenkt, ihr zugehört, sie zum Reden und Klagen ermuntert. Er, Ingo, war zufällig konträr zu Dagmar in Bestverfassung gewesen, da er zum ersten Hornisten im Studentenorchester aufgerückt war. Er hatte sie dann in den Arm genommen. Sie saßen ohnehin schon auf dem Bett, weil es nur einen Stuhl in seiner Bude gab. Hatte sie durch seine Bewunderungsworte, die in Liebesgeflüster übergingen, angefüllt. Aufgebaut. Bis sie sich ihm zuwandte. Bis sie ihn wollte.
    Herr Merse wusste selbst nicht mehr, wie er das alles geschafft hatte. War das wirklich er gewesen? Es war so lange her. So weit weg. Sie war die zweite Frau gewesen, mit der er im Bett war. Gott sei Dank nicht die allererste, so war er vorbereitet. Er hatte mit seinem gesamten Sensorium zu ihr hingewittert und sich lange zurückgehalten, bis er das Gefühl hatte, sie ließ sich gehen und kam. Oder wollte sie nur, dass er kam? Machte sie ihm was vor? Später war er ihr gegenüber immer stolz darauf gewesen, wie lange er im Bett konnte, und sie hatte genickt und gelacht und ihn mit Loriot aufgezogen: » Du kannst länger, aber ich kann öfter.« Das war doch alles echt gewesen! So war es doch gewesen! Oder nicht?
    Bei diesem ersten Mal hatte die Studentin nebenan plötzlich nach ein paar Dreiklangübungen » Die Möwe« gemacht. Damals waren sie beide peinlich berührt gewesen, es riss sie heraus aus ihrer ersten Zweisamkeit. Später allerdings, als sie vertrauter miteinander waren, machte Dagmar immer mal » Die Möwe« nach. Einfach so. Wenn sie sich langweilte. Beim Fernsehen. Und einmal beim Sex, mittendrin. Mitten aus ihrem Stöhnen heraus hatte sie laut » Die Möwe« an seinem Ohr gemacht. Es hatte ihn bis ins Mark erschauern lassen. Es war das einzige Mal, wo er sich auf der Stelle in sprachloser Wut zurückgezogen hatte. Da hatte sie sich entschuldigt ( » Es ist über mich gekommen!«) und Theorien aufgestellt, dass es sie vom ersten Mal » geprägt« habe. Es war ihm aber klar gewesen, dass dies Ausflüchte waren. Den Grund, den wahren Grund für ihr seltsames Verhalten hatte er nie herausgefunden. Aber hatte er denn hartnäckig gefragt? Es wirklich verstehen wollen? Nein, es war einfach versandet in ihm. Mit der Zeit. Alles versandete eben in ihm. Sandeman. Dry Sack.
    Er setzte sich auf. Wischte sich den Sand von den Armen, aus dem Gesicht. » Dann machst du es nächstes Mal richtig«, hörte er Johannes wieder sagen.
    Angestrengt versuchte Herr Merse sich zu erinnern, wie der mögliche Zeugungssex gewesen war. Wo und wann? Er musste zurück und auf die Daten der Einträge schauen. Er musste, nein, er wollte das klären. Das war viel wichtiger, als das mit der Möwe herauszufinden.
    Er stand auf und stolperte durch die Dünen zurück. Er hatte sich nicht verlaufen, fand sogleich das Fahrrad. Es ist noch nicht schlimm genug, dachte er, sonst würde ich nicht so schnell zurückfinden. Der Gedanke war gleichzeitig tröstlich und jämmerlich. Der Weg nach Hause zog sich hin, die Dünen hinauf und hinunter. Ihm war Sand in die Hose gekommen und scheuerte zwischen den Pobacken, während er den Fahrradweg entlangstrampelte. Zu Hause stellte er sich unter die Dusche, cremte die wunden Stellen ein, trank ein Glas Rotwein, schlug das Tagebuch zu, klärte nichts, schluckte voller Selbsthass

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