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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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eineinhalb Tabletten und schlief sofort ein.

Samstag
    Er erwachte am hellen Vormittag, weil es an der Tür klingelte. Neudeckers beschwerten sich über die nächtliche Duschenbenutzung. Während sie sprach, spähte Frau Neudecker an ihm vorbei ins Zimmer. Herr Merse brachte ein » Entschuldigung« heraus. Mehr nicht. Er schloss die Tür. Es war bereits elf. Sein Mund fühlte sich trocken an. Er trank ein Glas Wasser; es schmeckte schal. Wie ich wohl stinke, dachte er. Trinke und stinke. Er setzte sich wieder hin. Ihm war flau. Er wollte wieder seine Pillen einnehmen. Er zitterte. So ging es nicht. Aber nicht auf nüchternen Magen. Also erst zum Bäcker. Oder Knäckebrot? Nein, nichts Staubtrockenes in diesem staubtrockenen Mund.
    Er zog mechanisch ein T-Shirt und die Jogginghose an. Dann die Jogginghose wieder aus, die Badehose an. Dann die Badehose wieder aus. Er konnte jetzt nicht in dem kalten, riesigen Meer baden. Er ging in Jogginghose ohne Unterhose zum Bäcker. An der Theke stieß er völlig unvorbereitet auf Frau Luner. Als er sie von hinten sah, wäre er am liebsten heuschreckenhaft weggesprungen. Er hatte noch nicht mal die Zähne geputzt! Regungslos stand er da. Jetzt eine Tarnkappe! Frau Luner war gerade mit ihrem Einkauf fertig, drehte sich um, und ihr Gesicht hellte sich auf: » Oh, hallo! Schön, Sie zu treffen. Ich habe Sie gestern schon mit Joel gesucht! Wir wollten Sie zum Essen einladen.« Frau Luner wandte sich um, sie hatte ihre Brötchentüte auf der Theke liegen gelassen. Nun war Herr Merse dran. Sie wartete, bis er fertig war. Er fühlte ihre Gegenwart schräg hinter sich wie Metall den Magneten und stemmte sich vergeblich dagegen.
    Sie verließen den Laden gemeinsam. Herr Merse war froh, den Sommerwind zu spüren. Der würde alles wegtragen, was aus seinem Mund kam. Er stotterte, er sei etwas spät dran heute. Sie lachte. » Sind doch Ferien!« » Sie waren plötzlich weg«, kam es platt und flach aus seinem Mund. » Ja«, sagte sie einfach. Und nach einer Pause: » Was halten Sie davon: Ich besuche Sie nachher am Strandkorb, dann erzähle ich Ihnen, was war. Ich bin Ihnen sehr dankbar«, fügte sie ernst hinzu. » Wofür?« » Dass Sie sich so nett um die Kinder gekümmert haben.« » Ach so. Ja.« Abrupt sagte er: » Dann bis nachher«, und lief mit der Brötchentüte in der Hand auf Barbaras Wohnung zu.
    » Es ist alles zu viel«, sagte er laut im Zimmer. Gestern wäre er vor Glück aus dem Häuschen gewesen über die Begegnung beim Bäcker, hätte fiebernd alles vorbereitet für ihren Besuch in seiner Lok. Den sie selbst vorgeschlagen hatte! Nun mochte er gar nicht daran denken.
    Er duschte nicht, frühstückte lustlos und nahm die Morgentablette ein. So, jetzt war er wieder auf seiner Normaldosis. Na wat denn. Er brauchte Hilfe. Er sprach Johannes an, erzählte ihm, ob es ihm gerade passte oder nicht, von Dagmar. Von dem Sohn, der nicht ins Leben hatte wachsen dürfen. Den Dagmar in Altona aus dem Leben befördert hatte. Wohin auch immer. Johannes antwortete nichts. » Warum sagst du nichts?«, fragte Ingo dringlich in seine hellen Augen hinein. Gott sei Dank trug Johannes keine Brille wie Schostakowitsch. Das halblange Haar hing ihm um das blasse Gesicht, genau wie auf der Zeichnung aus dem Buch: » Frag du mich doch was«, entgegnete Johannes. Herr Merse überlegte. » Soll ich Dagmar konfrontieren? Sie stellen und sie konfrontieren?«, fragte es aus ihm heraus. Johannes überraschte ihn mit einer für seine Verhältnisse langen Antwort: » Konfrontieren: nein. Sprechen: ja. Sprich erst mit dir selbst, hör dir zu und versteh dich. Ich mach das am Klavier. Geht auch mit dem Horn. Geht auch mit Worten. Geht nach innen wie nach außen. Ist alles das Gleiche.«
    Herr Merse war gerührt. Er hörte innerlich die berühmte Stelle aus der ersten Symphonie, wo sich das Horn als ALPHORN machtvoll über das suchende Treiben der anderen Instrumente erhebt und dann von den Posaunen ins Himmlische erhöht wird. So empfand er es jedenfalls. Johannes hatte das Alphornmotiv schon als junger bartloser Mann komponiert und Clara per Postkarte zugeschickt, mit einem banalen Text unter den Noten, fast einem Dagmar- Spruch! In einem Alter, als er, Herr Merse, sich morgens noch » am Ufer« aufhielt und weiter nichts mit sich anzufangen wusste… Plötzlich fiel ihm ein, dass Brahms zwischen Alphornmotiv und dem Posaunenchoral eine Flötenpassage eingefügt hatte. Die Flöten griffen das erhaben

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