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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Angst.« Herr Merse erschrak, weil er sich wie einen Fremden hörte, der mit lauter Stimme zu jemandem redete. Schnell stellte er sich Johannes vor. Sie standen am Fenster seines Zimmers in Detmold und sahen auf eine große Blutbuche. » Ich habe Angst«, sagte Ingo, leiser als zuvor. » Wovor?« » Na, zu lesen, was sie schreibt. Dann weiß ich, was ich alles falsch gemacht habe.« » Und? Ist doch gut! Dann machst du es nächstes Mal richtig!«, sagte Johannes einfach und vertiefte sich in sein Spielen. Nächstes Mal? Herr Merse hatte Frau Luners Lächeln vor sich. Ob es ein nächstes Mal gab? Dann war es wichtig. Richtig. Johannes hatte recht.
    Er schlug den ersten Eintrag auf:
    2 . 10 . 2000. Im Traum heute Nacht habe ich ein dreimaliges Klopfen gehört. Dumpfes, schweres Klopfen mit einem Nachhall. Wie mit einem schweren Stock gegen eine Eisentür oder mit der Faust gegen ein Tor. Sonst nichts gesehen, nur dieses Klopfzeichen gehört. Seltsam. Darum fange ich an, hier zu schreiben. Ingo zitiert immer: » Ich meint, es will sich was verkünden / Und kann den Weg zu mir nicht finden.« Wohl ein Spruch von seiner Schwester. Er hat ja alles von seiner Schwester. Aber jetzt verstehe ich den Spruch. Etwas klopft bei mir an. Aber was? Ingo will ein Kind. Aber ich will nicht. Klopft so ein Kind an? Kann nicht sein.
    Herr Merse schluckte. So wichtig hatte sie ihn genommen! Ihn zitiert! Sie war eifersüchtig auf Barbara gewesen, mein Gott! Erschüttert blätterte er weiter. Dagmar hatte entgegen ihrem Vorsatz vom 2 . Oktober ein ganzes Jahr lang nichts weiter eingetragen. Was auch immer anklopfte, dachte Herr Merse, sie ging dem nicht weiter nach. Jedenfalls nicht schreibend. Er schlug die nächste Seite auf. Zwischen ihren Einträgen ließ Dagmar immer mindestens eine Seite frei.
    28 . Dezember 2001 . Bin schwanger. Test war positiv. Hab auf den Ring gestarrt. Konnte es nicht glauben. Ingo weiß nichts. Ich sag ihm nichts. Ich wills nicht. Mit Renate gesprochen.
    29 . 12 . 2001. Ich hab ’ne Adresse in Altona. Sage Ingo, ich geh auf die Chorfahrt mit Renate, springe ein im Sopran als Aushilfe.
    Herr Merse starrte auf den Eintrag. So wie er jetzt auf die Seite starrte, hatte Dagmar auf den Ring– was für einen Ring???– gestarrt. Test mit Ring wohl. Kannte er nur vom Hörensagen. Es raste in seinem Kopf. Er hätte einen Sohn haben können. Ein Kind. Eine Tochter konnte er sich nicht vorstellen, einer Tochter fühlte er sich nicht gewachsen. Einen Sohn. Der Sohn wäre jetzt– Herr Merse zählte benommen– acht, nein sieben Jahre alt. Im September 2002 – er zählte an den Handknöcheln die Monate vom Dezember ab– wäre er zur Welt gekommen. Wenn. Ja wenn.
    Er rang nach Luft. Aus einer Tiefe im Inneren, die er bisher nicht gekannt hatte, kam ein Ton. Ein Fremder in ihm stöhnte. Er sprang auf, rannte ohne anzuhalten bis hinunter zum Strand, stand keuchend am Wasser. Wie an des Lebens Rand. O Gott, Eichendorff. Er stöhnte das Meer an. Was war das? Aus seinem eigenen Leben war er ausgebucht worden. Er hatte nicht gezählt für sie. Alles hatte sie in die Hand genommen. Nichts für ihn gelassen. Nichts mit ihm besprochen. Kein Wort zu ihm. Sein Anteil am Kind! Sein– sein Samen. Ausgelöscht. Sein Samen zählte nicht. Der sich mit ihrem Anteil vereinigt und schon ein winziges Wesen erzeugt hatte, das einen Ringabdruck hinterließ. Eine Null formte. Schon in sich selbst unendlich war.
    Das Wasser klatschte an die Buhne neben ihm. » Nicht so nah an den Buhnen schwimmen!«, hatte man ihnen früher eingeschärft. Nun ging er an der Buhne entlang ins Wasser. Sollte ihn das Wasser doch darandrücken. Auf dem nassen Beton saßen Miesmuscheln, dicht an dicht. Eine Welle kam. Er torkelte, fühlte die scharfen Kanten am rechten Oberschenkel. Es schmerzte nicht. Er fühlte nichts. Nullen fühlen nichts. Nichts fühlen Nullen. Eine neue Welle kam und drückte ihn an die Buhne. Er sah Quallen im Wasser. Sie erinnerten ihn an Abbildungen männlicher Eizellen , die Richtung weibliche Eizelle schwammen und da anklopften. Ein Klopfen, wie Dagmar es im Traum gehört hatte. Und eines seiner Tierchen hatte es beharrlich durch die Wand geschafft, und so war aus zwei eines geworden. Ein Neues. Sein Sohn. Der dann einen Ring machte auf einem Test. Schon gewachsen war zu Millionen von Zellen und vielleicht schon kleine Beine, Hände und Füße und einen kleinen Kopf und einen kleinen Leib mit einem winzigen Schwanz gehabt hatte. Herr

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