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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Merse stöhnte wieder und schlug mit der flachen Hand auf das Wasser. Der in Dagmars Bauch herumgeschwommen war wie diese Quallen hier, Wesen, die am Strand nur einen Gallerthaufen bildeten und allen lästig waren. Sein kleiner Sohn war Dagmar lästig gewesen, wie er selbst sicher auch. Lästig. Lästige Last.
    Leere Null und lästige Last. Herr Merse sagte es laut und deutlich vor sich hin. » Ich bin eine leere Null und eine lästige Last.« Nachdem er es ausgesprochen hatte, drehte er sich um und watete wankend aus dem Wasser, schrammte dabei mit dem anderen Oberschenkel an der Buhne entlang. Ein Mann sah ihn neugierig an. » Ist Ihnen nicht gut?«, fragte er. Herr Merse schüttelte den Kopf. Seine Haut war blutig aufgeschrammt, er spürte nichts. Er hörte nichts, er ging in einer großen stillen Blase. Nass kam er in Barbaras Wohnung an. Da lag das offene Tagebuch, wie er es verlassen hatte. Er nahm es auf und blätterte um. Der nächste Eintrag war ein halbes Jahr später.
    6 . 6 . 2001. Ich muss etwas ändern. Aber wie? Er tut mir leid. So kann es nicht bleiben. Ewig hängt er an mir dran, ich finde keine Ruhe, in mir nicht und außerhalb auch nicht. Nur beim Flöten. Will noch den Vortragsabend schaffen und dann mit ihm reden.
    » So kann es nicht bleiben«? Vier Jahre vor der » Konfrontation« hatte sie diese Zeile geschrieben! Wie war das möglich? Er erinnerte sich dunkel an den Vortragsabend. Sie hatte geübt wie verrückt. Nicht mehr mit ihm geschlafen. War abends müde. Vertröstete ihn auf nach dem Konzert. In Herrn Merses Kopf verwirrten sich die Gedanken. Er las nicht weiter. Die Zeilen » Bin schwanger. Test war positiv« reichten doch. Mehr musste er nicht wissen. Warum sie ihn noch so lange ertragen hatte? War ihm egal. Bin schwanger. Test war positiv. Dim dam dam. Dim dim dam dam dam.
    Herr Merse schaute auf die Uhr. Sie tickte weiter, als wäre nichts geschehen. Wenn jemand stirbt, bleibt keine Uhr stehen. Alles geht immer weiter. Blind und blöd war er neben Dagmar hergetrottet. Wo war sie hingegangen mit ihrem gemeinsamen Sohn im Bauch? Was war das für eine Adresse gewesen? Er könnte Renate fragen. Aber warum? Entsetzliche Bilder wälzten sich in seinem Kopf. Was ist aus dem Gallerthaufen geworden? Er schlug ohnmächtig verzweifelt den Kopf an die Wand. Abtreibung. Wie das klang. Ausschabung. Was da passierte. Wie sie das Kleine da rausholten. Mit was für Instrumenten. Er schauderte. Hatte das Kleine was gemerkt? Dass da was Scharfes reinkam, da, wo es ursicher herumpaddelte. Sorglos mit seinen kleinen Bein- und Armtentakeln herumfuhrwerkte. Und er als Vater hatte es nicht beschützt. Der Seestern fiel ihm ein. Den er achtlos weggeworfen hatte. Dem ein Arm fehlte. Abgebissen oder abgerissen. Den er weggeworfen hatte, egal, ob der noch lebte oder nicht. Er war nicht besser als Dagmar. » Dagmar, ich bin nicht besser als du«, hörte er sich stöhnen.
    Es tat ihm gut, diesen Satz laut auszusprechen und ihn ernst zu meinen. Er wiederholte ihn mehrfach laut. Er zitterte, aber anders als am Morgen. Er zitterte laut am ganzen Körper. Er war noch nass vom Wasser, hatte nicht geduscht. Er duschte jetzt. Die aufgeschabten Hautstellen brannten. Er trocknete sich vorsichtig ab und zog sich an.
    * * *
    Herr Merse holte Barbaras Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr los, Richtung List. Er fuhr und fuhr, bis er zu dem großen nördlichen Dünengebiet kam. Er warf das Fahrrad an den Weg. » Betreten der Dünen außerhalb der ausgewiesenen Wege verboten!« Er stieg die Dünen hinauf und hinunter. Es war schon spät, wurde dunkel und kühl. Mit jedem Schritt sank er im Sand ein, nutzte die Büschel des scharfkantigen Schneidegrases, um besser vorwärtszukommen. Seine Hände bluteten. Er wollte sich verlaufen. Von höheren Dünen aus sah er das Meer, das schwarz und ruhig dalag. Als er vor Erschöpfung keinen Schritt mehr tun konnte, warf er sich in eine Sandmulde. Unter der abgekühlten Oberfläche war der Sand noch warm. Er legte sich platt auf den Bauch und wühlte mit ausgestreckten Armen, die er auf und ab bewegte, Halbkreise in den Sand. Wie Kinder es im Schnee tun. Ich spiele Engelchen, dachte er. Bin aber ein Engelmacher. » Ich bin nicht besser als du, Dagmar.«
    Schließlich lag er still, die Stirn auf dem angewinkelten Arm. Endlich konnte er weinen. Er weinte in den Sand hinein. Wenn er schnaufte, fühlte er Sandkörner im Gesicht, in den Nasenlöchern, im Mund. Irgendwann hörte er auf. Der Schmerz

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