Herr Merse bricht auf
Minotaurus, dieses Ungeheuer, halb Stier, halb Mensch, in der Mitte wohnt. Immerzu müssen ihm Menschen gebracht werden, die er frisst. Bis Theseus kommt, ein Held. Der hat eine Freundin, Ariadne, die gibt ihm einen Faden mit, den wickelt er beim Reingehen ab, so dass er dann wieder aus dem Labyrinth herausfindet. Er kämpft mit dem Minotaurus und bringt ihn um. Wollen wir das spielen?« » Oben oder unten?«, fragte Joel. » Was meinst du?«, fragte Herr Merse zurück. » Na, ist er oben Stier und unten Mensch oder umgekehrt?« Herr Merse war einen Moment verwirrt. » Gute Frage.« Er rief sich das Picasso-Bild aus dem Berggruen-Museum in Erinnerung, das er auf einer Berlinreise mit Dagmar besucht hatte. » Warte mal. Unten vier Beine. Also unten Stier. Der Kopf menschlich. Lockig. Stiernackig. Also oben männlich.« Die Mitte ließ er vorsichtshalber weg. » Wir haben aber keine Figuren«, sagte Joel. » Ich müsste erst mal welche basteln.« » Man könnte passende Treibhölzer suchen«, schlug Herr Merse vor. » Ja«, sagte Joel wieder tonlos. Herr Merse kam sich fehl am Platz vor. Was drängte er sich dem Jungen auf?
» Ich will was essen«, hörte er Joel sagen. » Bis nachher.« Herr Merse sah ihm nach, wie er zum Strandkorb ging und etwas holte, dann den Strand Richtung Ort verließ. Na klar, der Junge hat den ganzen Vormittag gebaut. Er ist hungrig. Holt sich eine Pizza. Oder isst wieder Cornflakes. Natascha war nicht zu sehen. Hätte er ihn doch begleitet! Immer war er so langsam.
Baden. Duschen. Cremen. Krimi. Kein Joel. Baden. Duschen. Keiner zu sehen. Noch mal Kaffee. Der Zug musste längst angekommen sein. Krimi. Herr Merse ging nach Hause und machte sich einen Salat mit Schafskäse. Das passt, dachte er. Schafskopf. Schafshund. Ihm war flau. Nach dem Essen ging es ihm besser. Er zog Dagmars Tagebuch hervor. Er wartete nicht auf Frau Luner. Er wollte nie mehr warten. Auf keine Frau der Welt. Das halbe Leben ist warten. Warten, bis du groß bist, warten, bis du eine Frau findest, warten, bis es dir besser geht, nachdem sie weg ist, warten, bis du eine neue findest, warten, bis du weißt, ob sie sich für dich interessieren kann. Warten, ob ihr Interesse von Dauer ist. Warten warten warten warten warten. Never never never never never. König Lear auf der Heide. Wartet auf seine Töchter. Ich lese jetzt. Warte nicht mehr.
Er öffnete das Buch. Die erste Eintragung war vom 2 . Oktober 2000 . Er blätterte. Er wollte erst einmal sondieren. Das Buch war ungefähr drei viertel vollgeschrieben. Der letzte Eintrag stammte vom 8 . September 2005 . Ihr letzter gemeinsamer Herbst. Im Frühjahr 2006 hatte sie ihn » konfrontiert«. Nach dem Eiswinter. In der Zeit unmittelbar vor ihrer » Eröffnung« hatte sie nichts geschrieben. Da gab es nur leere Seiten. Das Orakel der Leere? Hier war es wieder. Das Wichtigste, die Begründung, fehlte. Es zeigte sich als Leere.
Herr Merse zögerte. Sollte er die Eintragungen wirklich lesen? Vor seinem inneren Auge sah er Dagmar, wie sie abends schräg im Sessel saß und ihre Beine über die Lehne baumelten. Wie sie die unvermeidlichen Kreuzworträtsel löste und gelegentlich etwas in ihr Tagebuch schrieb. Manchmal fragte er, scherzhaft: » Beklagst du dich über mich?« Und sie hatte geantwortet, ganz ernsthaft: » Du bist nicht das Einzige auf der Welt. Ich denke über mich und mein Leben nach.« Hätte sie gesagt: Du bist nicht der Einzige auf der Welt, ja, dann hätte er schon damals heimlich in das Tagebuch geschaut. Dessen war er sich sicher. Oder? Nein, er hätte es nicht getan. Er kannte sich. Sie hatte gerätselt und geschrieben, er gelesen und gelesen. Die Zeitung. Bücher. Romane. Gedichte. Aber nicht ihr Tagebuch. Und nicht in ihr.
Was wusste er von Dagmar? Von der geheimen Kammer ihres Herzens? Hatte sie diese je geöffnet? Immer war sie so sicher, so bestimmt und bestimmend gewesen. So schnell. Er hätte ahnen müssen, dass die Schnellen immer das Langsame in sich liegen lassen und dann, wenn sich davon genügend aufgetürmt hatte, ratlos vor diesem Berg stehen. Der sie von innen drückt. Natürlich hatte er damals geglaubt, dass sie genau das wollte, was sie gerade so schnell und direkt verkündete. Er hatte nie Stopp gerufen, sie nie verlangsamt. Weil er Angst hatte, dass er dafür einen auf den Deckel bekam. Deckel. Dackel. Natascha hat Angst, dass Joel mich nervt. Merkwürdig, wo diese Angst unter völlig harmlosen Menschen herkommt?
» Ich habe jetzt auch
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