Herr Merse bricht auf
Vorgetragene auf ihre helle Weise auf. Warum– warum war das zwischen ihm und Dagmar im Leben nicht möglich gewesen, was hier zwischen Horn und Flöte in der Musik ohne Weiteres gelang? Herrn Merse rollten die Tränen aus den Augen, als er die Tonfolge wieder und wieder vor sich hinsummte. War es nicht das, worauf es ankam? Das Hören aufeinander? Das Sprechen miteinander in einer Musik, die das sagte, was man selbst nicht ausdrücken konnte? Uns hat der Posaunenchoral gefehlt, Dagmar, dachte er, der unser Nebeneinander überbrückt und uns abgerundet hätte. Wie Johannes durch seine erste Symphonie abgerundet wurde. » Danach«, Herr Merse erinnerte es auf einmal wieder, » danach hast du dir doch den Bart stehen lassen, nicht, Johannes?« Johannes nickte.
Herr Merse nahm das Horn aus dem Kasten und begann mit dem ersten Satz des Horntrios, zu dem Dagmar so unzählige Sprüche geklopft hatte. Er wollte sich beim Spielen zuhören. » Nach innen wie nach außen«, hatte Johannes gesagt. Wenn er sich zuhörte, würde er auch anderen zuhören können.
Es klappte keine Minute lang. Es schob ihn wie von selbst zu Dagmar hin. Ihm fiel ein, dass er im Studium meist länger geübt hatte als sie. Weil er schon damals viel gedacht hatte zwischendurch. So war es zu längeren Pausen gekommen, wie jetzt auch wieder, wo er das Horn absetzte und aus dem Fenster schaute. Dagmar hatte dagegen in einer Tour geübt, und dann war sie fertig gewesen. Er war meist länger im Überaum geblieben. Sie kam dann dazu, setzte sich in die Ecke und las. Das hatte ihn gestört, nicht beim Spielen, aber beim Denken, er hatte es ihr schließlich ungeschickt beigebracht. » Dann warte ich eben draußen!«, kam es schnippisch aus ihr herausgeschnellt. Und sie wartete. Draußen im Park oder auch auf dem Gang, je nach Wetter. Ja, damals hatte sie mit den Sprüchen angefangen. Aus Rache? Er war selbst schuld! Er hatte sie rausgeschickt. Ja, er war schuld. Wie die dicke Schneiderin in der Klinik.
Ich hätte sagen müssen: Hör auf damit. Es nervt, dachte er. Ganz einfach eigentlich. » Es nervt«, sagte er laut und ruhig. Nerven ist, wenn der andere die weißlichen feinen Nervenbahnen, die Herr Merse wie Adern eines Ahornblattes vor Augen hatte, zum Zittern bringt, so dass man unwillkürlich » Hör auf!« brüllen muss. Wie es Eltern andauernd taten. Wie er es jeden Tag hundertmal am Strand erlebte. Wie er es in Altona hätte tun müssen… hätte… hätte …
All das war aber jetzt nicht wichtig. Warum üben? Wofür? Zuhören? Wem? Nur der Sohn war wichtig. Er schlug das Tagebuch auf. 28 . Dezember. Also war die Zeugung im Advent gewesen. Vor acht Jahren. In den Vorweihnachtswochen lief das Musikleben auf Hochtouren; Sex dagegen rutschte in die Baisse. Oder? Er erinnerte sich nicht. Vielleicht hatten sie nach dem weihnachtlichen Vorspiel seiner Hornschüler Sex gehabt. Krönender Abschluss. Aber hatte Dagmar nicht die Pille eingenommen? Das Vorspiel fand immer in der Musikschule statt, danach gab es selbst gebackenen Kuchen. Kaffee. Plausch. Dagmar kam dazu, weil er sie darum bat. Er fühlte sich dann weniger unbeholfen. Sie konnte locker parlieren. Hinterher zu Hause kauten sie dann alle und alles durch, die Schüler, ihre Fortschritte, ihre Eigenheiten. Eigenschaften? Wer nett war, wer nicht. Dagmar war eine gnadenlose Beobachterin und fand für jeden einen pointierten Spruch. Das Durchhecheln machte ihr Spaß. Er war bestimmt erleichtert gewesen, das Vorspiel mit der kleinen öffentlichen Ansprache hinter sich gebracht zu haben. Vielleicht hatten sie dann zusammen geschlafen. Beim Adventskranz. Im Kerzenlicht.
Herr Merse spürte eine Schwere auf der Brust und atmete stoßweise dagegen an. Merkte man denn als Mann die Zeugung nicht? Der Gedanke quälte ihn, dass er nicht gefühlt hatte, dass etwas anders war als sonst. Man merkte die Lust, in der man sich mal mehr, mal weniger vergaß. Bewusstlose, aber lustvolle Zeugung? Jeder mit sich allein. Dass er ein Zeuge war, der nichts bemerkt hatte, passte zu ihm. Vermutlich hatte er einen Zimtstern gegessen hinterher.
Ich brauch Verstärkung, dachte er. Ulrich fiel ihm ein, der von seinem Saugraum der Stille wie von einem hilfreichen Heiligenschein umgeben war. Herrn Merse wurde bewusst, dass er am gestrigen Tag das Orakel ausgelassen hatte. Kein Wunder, dass er die Balance verlor! Eines zog das andere nach sich. Selbstherrliche Pilleneinnahme, hinter einer fremden Frau herspionieren, deren Kinder
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