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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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zurück, und beide schauten aus ihren Ecken auf das Meer.
    » Also?«, sagte sie. Sie war offenbar trotz ihrer Unbestimmbarkeit hartnäckig. Herr Merse räusperte sich: » Vier waren wir in der Familie, aus der ich komme. Meine Schwester, meine Eltern und ich. Aber jetzt bin ich nur noch einer.« Mit diesem Satz, so kam es ihm vor, stand sein ergänzungsbedürftiges Alleinsein wie eine fette Schlagzeile vor ihnen. Scham schnürte ihm die Kehle zu. Er verstummte. Frau Luner sah ihn an und fragte nach einer Weile vorsichtig und teilnahmsvoll: » Sind alle gestorben? Ich dachte, Ihre Schwester lebt und macht Fernreisen?« Herr Merse sah sich außerstande zu sprechen und das Missverständnis aufzuklären. » Nein«, brachte er schließlich hervor und konnte nicht verhindern, wie ihn eine Welle von Wut, Hass und Selbstverachtung durchwogte. » Ich bin nur einer, weil mich meine Frau verlassen hat. Und vorher hat sie unseren Sohn heimlich umgebracht.« Der letzte Satz kam gepresst heraus. Er keuchte und rang nach Luft.
    Frau Luner starrte ihn entsetzt an. » Umgebracht?«, wiederholte sie fassungslos.
    Was tat er! Was sagte er!
    Abgestürzter Rattervogel, hörte er mit seltsamer Klarheit. Wer sagte das? Er riss sich zusammen. » Ich meinte abgetrieben…«, korrigierte er leise mit zusammengebissenen Zähnen. Dann fiel er in einen Abgrund, der sich als fremde Schlucht in ihm auftat. Aus dem Schmerz quoll und ihn mit sich riss. Erst als er Frau Luners Hand auf seinem Arm spürte, kam er zu sich. Begann zu schluchzen und gleichzeitig das Schluchzen zu unterdrücken. Er würgte. Sie streichelte seinen Arm wie ein Kind und brachte tröstende Laute hervor. Langsam löste sich die gewaltsame Beherrschung. Er weinte und weinte. Am liebsten hätte er seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, tat das aber nicht, sondern nahm dankbar das Tempotaschentuch, das sie ihm hinhielt. Nach einer Weile sagte sie: » Wie weh muss es Ihnen tun. Wo Sie so kinderlieb sind.« Er weinte haltlos. Er trieb nicht mehr irgendwo mit, er war der Fluss. » Ich löse mich auf«, sagte er mit ruhiger, ihm ungewohnter Stimme. » Ich kenne mich gar nicht.«
    » Ich kenne das Auflösen gut«, sagte Frau Luner. » Und Joel kennt es auch. Auf seine Art. Er weint jede Nacht. Allerdings mit der Blase. Er ist Bettnässer. Er weint, weil sein Vater ihn ablehnt und ich zu wenig Zeit für ihn habe.« » Ach, deswegen wollten Sie ihn nicht hier schlafen lassen?«, sagte Herr Merse etwas tumb. Er war durcheinander. Quatschfrage. Nebenschauplatz. Aber Frau Luner lachte. » Nein! Er ist jetzt einfach zu schwer! Ich kann ihn nicht über den Strand bis zur Lerchenstraße tragen. Und das müsste ich. Oder Sie müssten es! Denn aufwachen tut er einfach nicht, wenn er mal eingeschlafen ist!« Herr Merse hätte Joel gern getragen, aber, ja, er hätte wohl bald schlappgemacht. Das Joel-Thema brachte ihn immerhin auf etwas festeres Terrain. Weg von sich. » Hat er das schon lange?«, fragte er.
    Er hatte nicht mit Frau Luners Hartnäckigkeit gerechnet. » Wir können ja später über Joel sprechen. Wollte ich ohnehin. Er hat mich nämlich vorhin gefragt, was ein Hornist ist und ob er das Horn mal ansehen könne. Ich weiß aber nicht, ob Sie es überhaupt mit in den Urlaub genommen haben.« » Doch, doch, natürlich, das lässt sich machen, ja, das tu ich gern, ja, ja, ich hab es immer dabei«, stotterte Herr Merse. Das war ja nicht zu glauben!
    Aber Frau Luner kam ohne Umschweife auf das furchtbare Thema, kam auf ihn zurück. » Wie lange ist das denn her mit Ihrer Frau? Äh, Exfrau, also mit dem Kind, meine ich…« Sie nimmt das Wort »Abtreibung« nicht in den Mund, dachte er. Es passt auch nicht zu ihr. » Natürlich nur, wenn Sie darüber sprechen möchten«, fügte sie hinzu und trank einen Schluck aus ihrem Weinglas. Wie sie ihn aus ihrer Strandkorbecke so anschaute, inzwischen in eine Decke gehüllt (seine, die er vorsorglich mitgebracht hatte!), so unbefangen und direkt hatte ihn lange kein Mensch, geschweige denn eine Frau, angesehen. Ihre Augen glänzten immer noch. Er schwieg.
    Frau Luners Blick wandte sich wieder Meer und Himmel zu. Wo kam das her, was aus ihr herausglänzte? Er versank in einer Erinnerung. » Glotz mich nicht so an!«, hörte er ganz laut Dagmars Stimme. Er hatte ihr nach einer Wanderung abends ungewöhnlich lange in das rundliche Gesicht geschaut. In dem Moment hatten ihre Augen geglänzt. Er wusste es noch ganz genau. Durch die schrägen

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